Bereits im November hatten wir uns zum Stockholm Marathon angemeldet. Den runden Hochzeitstag in unserer Lieblingsstadt marathon-laufend zu feiern, so hatten wir es uns vorgestellt. Wie es mit Trainingsvorgaben ist, kann es auch mit Reise- und Familienplänen sein. Kurzfristiges, umsichtiges Umdisponieren ist manchmal nötig. Am letzten Online-Anmeldungstag entscheiden wir uns für den Winterthur Marathon, welcher einen Tag nach dem Stockholmer Lauf stattfindet.
Freund Hugo lässt sich von der Idee begeistern und meldet sich trotz anstrengender Trainingswoche spontan zum Halbmarathon an.
Um sechs Uhr steigen wir in Bern gemeinsam in den Intercity und gelangen bequem in eineinhalb Stunden ohne Umsteigen nach Winterthur. Das Handy führt uns auf direktem Weg durch die attraktive Altstadt zur Reithalle. Die Schwedenhäuschen-roten Holzgebäude dienen heute als Laufsportzentrum und bieten eine heimelige Atmosphäre. Schnell sind wir im Besitz unserer Startnummern. Als wir nach dem Umziehen vor dem Wertsachendepot in der Schlange der später startenden Halbmarathonis stecken bleiben, werden wir aber langsam nervös.
Ein Funktionär verhilft uns zum Vortritt, und es bleibt Zeit auf dem gegenüberliegenden Platz ein paar Minuten einzulaufen, während wir dem originellen Heissluftballon bei den Startvorbereitungen zuschauen.
Hugo begleitet uns zum Startfeld und knipst ein Erinnerungsbild. Unsere minimale "Verkleidung" zieht schon unerwartet viel Aufmerksamkeit auf sich.
Nur noch eine Minute bis zum Start! Wir besinnen uns schnell auf unser Vorhaben, möglichst genussvoll und gut eingeteilt einen 3:59 Stunden-Marathon zu verwirklichen. Nach dem 17 km-Test beim Flughafenlauf traue ich mir maximal 3:50 zu. Auf meinem Paceband steht als Wunsch Geschwindigkeit 5:40 Min./km, und ich vermute, dass ich mich für eine sub 4-Stunden Zeit an diesem warmen Tag fast maximal werde anstrengen müssen.
Wie übermütige Kälber auf der Frühlingsweide galoppieren die ersten Reihen der nur gut 200 Marathonis davon. Meine Uhr mahnt nach wenigen hundert Metern vergeblich zum Bremsen, als es vorbei am ehemaligen Sulzer-Fabrikareal in Richtung Bahnlinie geht.
Wir sind noch keinen Kilometer gelaufen, da schiesst ein schneidender Schmerz in meinen rechten, hinteren Oberschenkel, wie kürzlich an einem frostigen Morgen nach einem langen lockeren Lauf. Im ersten Moment bin ich überzeugt, den Lauf aufgeben zu müssen. Aber doch nicht heute - bei diesem besonderen Marathon-Abenteuer! Ich versuche möglichst entspannt zu laufen und hoffe, dass das störende Ziehen verebbe.
Während wir die filigrane Schrägseilbrücke passieren, welche die Bahnstrecke Winterthur - Zürich überspannt, haben wir die Bremse immer noch nicht gefunden. Daran ändert sich auch nichts, als wir von der Vogelsangstrasse wie durch einen grünen Tunneleingang in den Eichliwald eintauchen.
Frischer Waldduft, angenehme Morgenkühle und ein vielstimmiges Vogelkonzert empfangen uns. Nach vier Kilometern ist man schon um unser leibliches Wohl besorgt. Das Missempfinden in den Hamstrings lässt langsam nach, die Pulswerte stimmen, und wir fragen uns, ob wir es wagen sollen, den etwas schnellen Anfangs-Fluss angesichts der später zu erwartenden Sommertemperaturen mitzunehmen?
Knapp zwei Drittel der Strecke verlaufen auf Naturwegen, kilometerweit ist der Wald treuer Begleiter, und wartende Teamläufer machen einen grossen Teil des Publikums aus.
Gut sechs Kilometer sind zurückgelegt, als wir in einer Haarnadelkurve wenden. Nur wenige Meter neben der eben erlaufenen Strecke geht es der Töss entlang flussabwärts.
Trotz Wendestrecke kommt keine Spur von Langeweile auf. Wir laufen nun auf einem Wanderweg, der durchaus seine Tücken hat. Verschlungene Wurzeln, grosse Flusskiesel, und ausgetrocknete Pfützenlöcher fordern die Füsse, und an einer matschigen Stelle wartet ein federnder Plankensteg.
Der Blick soll jedoch nicht nur am Boden haften, die idyllische Aussicht will auch genossen sein. Eine schöne Holzbrücke überspannt den Fluss Töss. Der Name bedeutet "die Tosende". Heute plätschert ihr klares Wasser eher gemächlich über die Schwellen, und umspielt sanft Kiesbänke und kleine Sandstrände.
Bei Kilometer 8 gibt es schon wieder zu trinken. Unser eigener Vorrat reicht noch aus. Einen kühlenden Schwamm nehmen wir aber gerne entgegen.
Der nächste Wendepunkt kommt in Sicht, und bevor wir auf die andere Flusseite wechseln, fliesst uns das grosse Feld der knapp 1'400 Halbmarathonis entgegen. Zusammen mit 900 10-Kilometer-Läufern und 92 5er-Staffeln sorgen sie für die grössten Gruppen der 3230 Läufer, die heute den Teilnehmerrekord brechen werden.
Auf der linken Töss-Seite passieren wir die 10 Kilometer-Marke. An unserer gewagten Startgeschwindigkeit von 5:20 Min./km hat sich noch nichts geändert ...
Winterthur hat den Ruf eine "Gartenstadt" zu sein. Unser Weg führt jetzt an vielen kleinen, schmucken Gärten vorbei. Fast 3000 "Pünten"- wie Schrebergärten hier genannt werden - soll es in der ehemals bedeutenden Industriestadt geben.
Eine Plankenbrücke bringt uns über den Zufluss "Kempt", und jetzt zeigt die Uhr plötzlich die geplanten 5:40er Paces an. Zwischen Kilometer 9.5 und 17 geht es stetig aufwärts. Zuerst entsprechend dem Gefälle der Töss nur ganz sanft. Wie eine lange Rampe steigt der Weg um fünf bis sieben Höhenmeter pro Kilometer. Zunehmende Wärme und schattenlose Abschnitte machen diese aber deutlich spürbar.
Es duftet betörend nach Bärlauch im Leisental, das uns immer weiter um den Eschenberg herumführt. Wir sind begeistert von der Naturidylle und vermissen den Publikums-Rummel von grossen Städtemarathons keine Minute.
Leben kommt auf den einsamen Wegen auf. Die Halbmarathon-Spitzenläufer preschen vorbei, die Staffelläufer sind auch unterwegs. Schneckenhaft scheint unser Aufwärts-Schleichen, doch die Pulsuhr warnt davor, sich vom Tempo der Überholer auch nur einen Hauch anstecken zu lassen. Puh es wird schnell warm!
Für Abwechslung sorgt auch der Flugverkehr, der Flughafen liegt Luftlinie nur knapp 20 Kilometer entfernt.
In Sennhof überqueren wir nach 16 Kilometern die Töss erneut. Ein ganz kurzes Stück geht es nun durch die Zivilisation, wobei es der letzte kurze Asphaltabschnitt in sich hat.
Oberhalb des Aussenquartiers von Winterthur klettert der Waldweg ein weiteres Stück, bis uns am "Seemer Buck" die sechstgrösste Stadt der Schweiz wieder zu Füssen liegt.
Oft werden wir unterwegs auf unser Jubiläum angesprochen. Da und dort ergibt sich ein nettes Gespräch, und wir staunen, wie viele der jungen, schnellen Staffelläufer gratulieren. Auf dem ersten, erstehnten Abwärts-Kilometer fragt jemand, ob ich meinen Haarschmuck schon bei der Hochzeit getragen hätte. Als wir uns umschauen, trauen wir unseren Augen nicht!
Daniel läuft jonglierend - jongliert laufend, als sei dies ein Kinderspiel! Bei jedem Schritt fliegt ein neuer Ball in die Luft, verloren geht nie einer, und der Ballkünstler scheint deutlich leichtfüssiger unterwegs zu sein als wir!
Wie er wohl diesen Trail mit Stolpergefahr schafft? In kürzester Zeit "vernichten" wir auf dem schmalen Waldpfad die mühsam erarbeiteten Höhenmeter, und in Seen geht es flach weiter.
Mit elastischen Schritten zieht der Jongleur auf der fussfreundlichen Piste entlang von Schrebergärten von dannen (er wird fünf Minuten vor uns ins Ziel kommen). Mir wird das ebene Stück am lauschigen Mattenbach zurück in die Stadt lang, obwohl sich der Puls beim Abwärtslaufen gut erholt hat.
Das Publikum trägt uns den letzten Abschnitt zur 21 Kilometer-Marke, die wir nach 1:53:49 Stunden überqueren (hochgerechnet schätzen wir eine Halbmarathon Zeit von 1:54:24 Stunden / 5:24 Min./km). Geradeaus ist der Zielbogen zu sehen, und in der sommerlichen Wärme zu einer zweiten identischen Umrundung des Eschenbergs aufzubrechen wirkt einen Moment sehr abenteuerlich. Ein bisschen beneiden wir Hugo, der schon in wenigen Minuten über die Halbmarathon-Ziellinie laufen wird.
Andi läuft bisher kaum angestrengter als beim Sonntagslongrun. Ich habe meinen Puls einigermassen im Griff, doch der Gedanke an die lange Rampe beschäftigt mich schon jetzt.
Zurück im Wald ist es noch deutlich kühler als in der Stadt. Der Weg zum ersten Wendepunkt scheint zwar weiter. Auf dem Wanderweg flussabwärts gibt es hingegen zur Mittagszeit viel Unterhaltung. Die Feuerstellen und Picknickplätze sind alle von Sonntagsausflüglern besetzt, Rauchschwaden und Wurst-Duft ziehen durch das Tal.
Vom Veranstalter gewissenhaft vorgewarnt schaffen wir die schwierigste Wurzelstrecke auch diesmal ohne Stolperer. Und ich freue mich, dass meine Lieblingsschuhe (On Cloud), die im Training gerne Kieselsteine im Sohlenprofil sammeln, dies heute zuverlässig sein lassen.
Wir entdecken neue Perspektiven, ein blühendes Lupinen- und Mohnfeld zwischen den "Pünten". Und da steht ja sogar ein echtes kleines Schwedenhäuschen mit Windfahnen-Elch!
Längst füllen wir die Trinkflaschen bei jeder Versorgungsstelle auf und kühlen grosszügig Kopf, Schultern und Oberschenkel mit den gereichten Schwämmen. Nehmen wir das Pièce de résistance in Angriff!
Zwischen Kilometer 30 und 38 fordert uns der Weg durch das unerbittlich ansteigende Flusstal doppelt so intensiv wie auf der ersten Runde.
Die Sonne steigt höher, der Schatten wird weniger. Wir ziehen alle Register - Salztabletten, Gel mit Koffein - trinken wie die Kamele und traben bald pulsgesteuert nur noch im knappen 6er Schnitt, damit wir den Bärlauchduft und das Spiel von Licht und Schatten noch wahrnehmen können. Andis Zuspruch und Geduld motivieren mich zum Dranbleiben.
Der A380 der Singapore Airlines gibt uns wieder die Ehre wie vor kurzem am Flughafenlauf. Schon kommt das Areal der ehemaligen Spinnerei Bühler am Dorfrand von Sennhof in Sicht.
Ein bisschen Tour de France Stimmung gefällig? Die Staffelläufer geben alles, um uns zu motivieren ...
... und ich bremse unser Zweiergespann auf dem happigsten Kilometer dennoch deutlich. Wann schwenkt der Waldweg endlich nach rechts und überquert die letzte Hügelkuppe?
Geschafft! Die Stadt liegt wieder zum Greifen nah vor uns. Noch vier Kilometer! Die vorderen Oberschenkel brennen, vermögen die Schläge der wieder längeren Schritte nicht mehr so gut aufzufangen wie auf der ersten Runde. Und mein Magen lässt sich nur durch Salztabletten-Lutschen zum Aufnehmen von weiteren Mini-Portionen Gel bewegen. Trotz aller Anstrengung sehe ich sie aber noch, die Mohnblumen im Feld.
Auf dem Trailstück wird es turbulent. Die Spitzenläufer des 10-Kilometer-Laufes stürzen sich förmlich in die Tiefe.
Zurück auf ebener Strecke in Seen muss der Fotoapparat Pause machen. Die Koordination der Schritte mit müden Füsse und das Magenkneifen fordern die ganze Konzentration. Die Beine tun brav ihren Dienst und leisten gar einen sanften Endspurt.
Es zieht sich bis zum gelben Post-Bogen, der die letzte Kurve markiert. Dann tauchen wir ein in den Applaus auf der Zielgerade, die Guggenmusik-Klänge, den Gefühlsrausch von Dankbarkeit, Freude und Erleichterung! Wir nehmen uns glücklich bei der Hand und laufen nach 3:55:18 Stunden Seite an Seite ins Ziel - unser Jubiläumslauf ist gelungen, und die Natur um Winterthur hat für den speziellen Anlass eine wunderschöne, stimmige Kulisse geboten.
Nur mit einem Ohr nehme ich war, wie der Speaker meinen Namen verkündet und dass ich in meiner Kategorie einen guten Platz erreichen werde. Ist das möglich mit einer Zeit knapp unter vier Stunden? (Zieleinlaufvideo).
Hugo erwartet uns im Zielraum. Auch er ist glücklich mit seinem Halbmarathon-Erlebnis und der erreichten Wunschzeit, sein Wiedereinstieg in Wettkämpfe ist nach der langen Pause mehr als geglückt.
Der Brunnen bei der Reithalle verlockt zum sofortigen Füsse Kühlen. Und nach einer erfrischenden Dusche machen wir es uns bei der traditionellen Bratwurst mit Bier unter einem Sonnenschirm gemütlich. Die familiäre Stimmung lädt zum Verweilen ein, und der Gesprächsstoff geht nach einem solch intensiven Erlebnis ja nie aus.
Der Speaker hatte Recht. Unser feierlicher Erlebnislauf hat als Nebenprodukt einen 3. Kategorien-Rang für mich bereit. Während die ersten drei der Alterskategorien bei grossen Marathons oft unbeachtet bleiben, der Rang nur als Zahl in der Ergebnisliste erscheint, so finde ich es doppelt schön, dass ein solch kleiner Event die Leistungen der Hobbysportler würdigt. An dieser Stelle ein herzlichens Dankeschön für die perfekte Organisation!
Zwei Medaillen klimpern auf dem Heimweg vor meiner Brust, die Sporttasche ist schwer von einer Flasche Wein, einem Paket Spaghetti samt Basilikumsauce. Der Muskelkater ist schon am Anrollen, doch die Seele voller unvergesslicher Erinnerungen.
Danke Hugo für deine spontane Begleitung, dein Mitfreuen und das schöne Erinnerungsvideo!
Winterthur Marathon
3:55:18.1 Stunden / 5:34 Min./km / Puls 161
+/- 190 hm / 16-20° schön, sanfter WSW-Wind, 50% Luftfeuchtigkeit
1. Halbmarathon 1:54:24 / 5:25 Min./km
2. Halbmarathon 2:00:55 / 5:44 Min./km
3. von 7 Frauen W50
18. von 36 Frauen
108. von 195 Finishern
Track https://connect.garmin.com/modern/activity/790176571