Schon ein paar Mal konnte man an dieser Stelle von schwedischen Läufen lesen. Und so ist die Frage, wo der Vindelälvs-Marathon stattfand, einfach zu beantworten: am ungebändigten, faszinierenden Nationalfluss Vindelälven in Västerbotten, Nordschweden.
Erst vor zwei Wochen hatten wir uns spontan zur Teilnahme an diesem winzigen Event entschieden. Wir trainierten gemeinsam, sind die 42.2 Kilometer Seite an Seite gelaufen, und so soll auch dieser Blogeintrag ein Gemeinschaftswerk sein.
Kursiv die Schilderung des Laufes aus Andis Sicht. Von mir stammen diesmal (fast) nur die Bilder ...
Nun ist er schon Geschichte, unser Marathon, und was für eine. Es war sicher einer der eindrücklichsten, die wir in unserem Leben gelaufen sind. Morgens bei bedecktem Himmel und kühlen 16° bei über 20 km/h Wind fuhren wir nach Vindeln, und bereuten es schon, zuhause nur das Singlet eingepackt zu haben. Zur Fahrt zog ich mir meine Jacke an, an Sonnencrème und Einschmieren dachte natürlich keiner.
In Vindeln, wo der Start sein sollte, standen zwei Autos, und ein paar dickvermummte Sportlergestalten schlichen auf dem Platz vor einer grossen Fabrik umher. Von einem "Startgebiet" keine Spur, kein Organisator, kein Startbogen, nicht einmal eine Startlinie, einfach nichts. Aber als noch ein paar Autos kamen, und mehr Sportler ausstiegen, machten wir uns gegenseitig Mut, schon am richtigen Ort zu sein.
Um 9.40 Uhr dann plötzlich Leben, es kamen einige wenige Autos, ein Mann sprayte eine Linie auf den Boden, andere packten Tische, Listen, Startnummern, T-Shirts usw. aus, und es sah schon halbwegs organisiert aus. Es war aber alles perfekt vorbereitet: alles war da, was man brauchte. Ohne jegliche Hektik bekam jeder, was er benötigte, und um 10.10 Uhr waren alle bereit und warteten auf die erste Staffelläuferin, bei deren Ankunft der Marathon gestartet werden sollte.
Wir nahmen den letzten Schluck Wasser, und ein paar Mücken saugten die Flüssigkeit weiter unten gleich wieder raus. Um 10.20 Uhr kam sie, und ein ohrenbetäubender Schuss (die Schweden jagen halt gerne) schickte uns Marathonis und alle neun Staffel-Schlussläufer auf die Strecke.
Der Startschütze hatte wohl auch die Wolkendecke getroffen, denn im gleichen Moment riss diese auf und liess die Nordlandsonne, die um diese Zeit halt schon hoch im Zenit steht und viiiiel Kraft hat, freundlich auf uns herunterbrennen. Der Wind kam zum Glück (vorerst) von schräg hinten, und wir reihten uns so im 2. Drittel ein.
Ob es 11 oder 14 Marathonläufer waren, werden wir noch erfahren. Der erste Startende verkündete laut seine gewünschte Zielzeit: 2h 40' (er kam nach 2:36:45 Stunden ins Ziel). Er rannte auch los wie ein Wilder und war schon nach kurzer Zeit hinter den sich ab sofort regelmässig wiederholenden Hügelkuppen verschwunden.
Wir hielten uns an zwei Läufer - Arbeitskollegen - sie rannte ihren ersten Marathon und avisierte 4 Stunden, er wollte sie pacen. Sie liefen vor uns her, der Abstand wurde immer grösser. Wir liefen schon 5.10-5.20, schneller sein und trotzdem nur 4h laufen wollen, konnten wir mit unseren Rechenkünsten nicht so recht nachvollziehen.
Organisator, Speaker, Wasserposten-Betreuer, Motivator, "Mann" für alles -
Leopold mit seinem Lautsprecher-Volvo von 1984.
Kilometerlang ging es durch den Wald oder an Wiesen vorbei, in ziemlicher Einsamkeit. Es ging auch sanft bergab, doch nicht so wie auf der Garmin-Grafik, die Strecke war kupiert, und Steigungen wechselten sich mit Bergabfahrten ab. Immer wieder überholten uns Begleitfahrzeuge der anderen Läufer und spornten uns an.
Alle 5 km gab es Wasser (sonst nichts), und das muss man sich so vorstellen, dass nach 5 km ein Auto am Strassenrand stand, auf dessen Dach 2 Becher standen - einer für Marianne, einer für mich. Wir bekamen schon etwas Panik, wie wir dann unsere Wasserflaschen füllen sollten, denn die Hitze machte, dass wir von Anfang an wie Kamele Wasser in uns hineinschütteten. Bei km 10 stand dann ein Mann mit einem Kanister, und unsere Sorgen waren verflogen.
Beim Start hatten sie uns gewarnt, dass es halt Bauarbeiten auf der Strecke gebe, sie sei an einigen Stellen "etwas schwer zu laufen". Was das heissen sollte, erfuhren wir zum ersten Mal, als wir 7 km über eine Strasse laufen mussten, deren Teer unregelmässig abgetragen war.
Später sollte es dann eine Strecke geben, bei der der Teerbelag durch einen groben Schotterbelag ersetzt war - so renovieren sie hier Strassen. Schotterbelag 2 Jahre liegen lassen, dann drüberteeren, das hält länger. Die Schotterstücke hätten z.T. jedes SBB-Gleisbett vor Neid erblassen lassen, wir stolperten und strauchelten darüber hinweg, und jedes vorbeifahrende Auto hüllte uns in eine dichte Staubwolke.
Zum ersten Mal auf Flussniveau - bei der Mündung des Krycklån in den Vindelälven.
Doch das war alles nichts gegen die atemberaubende Naturschönheit, die uns nach der Waldstrecke erwartete: blühende Wiesen, sanft geschwungene Naturweiden, herrlich gepflegte Häuser und Bauernhöfe, braune Flüsse und Bäche, die sich unter uns dem riesigen Fluss entgegenwanden, riesige Flugsanddünen, die der Wind damals an den Gletscher herangeblasen hatte.
Nach den Aufstiegen dann immer wieder Aussicht über die unendlichen Wälder, den blauen, breiten Fluss, die roten Häuserpunkte in der Landschaft, und überall, wo man einen Menschen sah, freundliche und aufmunternde Worte.
In Rödånäs.
Gut 20 Kilometer vor dem Ziel verlässt der 350 km lange Stafettenlauf - dessen letzte Etappe der Marathon ist - die 363 (die längste Provinz-Strasse Schwedens). Diese hat die Läufer seit dem Start in Ammarnäs dem Vindelälven entlang geführt.
Die Mündung des frei mäandernden Rödåns (was so viel heisst wie "Rot-Bach")
in den Vindelälven.
Ein kleines bisschen Zivilisation in Rödåsel - eine Tankstelle samt Mini-Supermarkt.
Auf der kräftezehrenden Schotterstrecke scheint Leopolds Wasser-Versorgungs-Punkt nach 20 Kilometern wie eine Oase im Wüstenstaub. Und der Applaus der Team-Mitglieder der Staffelläufer gibt Energie.
Spuren der intensiven Waldnutzung ...
Endlich, das Ende der Baustelle - und im winzigen Weiler Östra Selet freuen sich die Musikanten genauso über die Unterhaltung durch die Läufer, wie wir uns über ihre Musik.
Wir sind allein auf weiter Flur - sollen wir dem Pfeil vertrauen?
Zauberhaftes Örtchen Selet.
Typisch für den Vindelälven ist der stete Wechsel von Stromschnellen mit Flussbuchten - diese werden Sel genannt. Deren Ufer waren seit jeher bevorzugte Siedlungsgebiete. So gibt es am Vindelälven heute viele Orts- und Flurnamen, die dieses Wort beinhalten (der Etappenlauf führte z.B. durch Vormsele, Rusksele, Åmsele, Rödåsel).
Über die Holzhängebrücke ginge es zum Glassbonden, dem "Eiscrème-Bauern" - ein Eis, das wäre jetzt das Grösste - uns ist so heiss! Doch gleich gibts wieder Wasser!
Ab km 20 kamen dann die langen Aufstiege. Auf Nebenstrassen waren diese noch angenehm und ab und zu sogar beschattet, doch auf der Landstrasse waren diese unendlich lang und gerade, und obwohl sie höhenmetermässig nicht hoch waren, raubten sie einem doch viel Kraft.
Nach 25 km kam dann eine Landstrasse, die kaum mehr Steigungen oder Gefälle hatte, ringsherum weitete sich das Tal im flachen Schwemmland des Flusses. Die Strasse ging entsprechend oft lange geradeaus, und die km wollten nicht mehr kommen. Die Füsse brannten, der Körper war müde, Marianne war es von den Gels etwas schlecht geworden, und doch sammelten wir Läufer ein. Die 4h-Läufer hatten wir schon bei km 20 an einer Trinkstelle überholt, hatten aber keine Ahnung, wie wir standen.
Die Ortsnamen lassen uns schmunzeln - Inibyn - "Im-Dorf-drin" -
oder begreifen, weshalb wir so sehr schwitzen - Svettåker - "Schweissacker".
Als Nationalfluss ist der Vindelälven heute geschützt gegen jegliches Verbauen und Wasserkraft-Nutzung. Noch sind aber Spuren aus der Zeit des Holzflössens zu sehen. Bei Spöland stehen noch viele Betonpfeiler, an denen man das Holz vor dem Weiterflössen in "Magazinen" gesammelt hatte.
Endlich, endlich dann Slöjdarna's Hus, ein Café mit Kunsthandwerksläden, das wir von vergangenen Reisen so gut kannten und das Ende des Vindelälvflusses ankündigte (fliesst dort in den Umeälven).
Jetzt noch über die Brücke und rein ins Dorf Vännäsby, wo das Ziel auf uns wartete - aber eben, nochmals 2 km, auf denen wir noch von einem Staffelläufer überholt wurden, den wir 8 km vorher mit Krämpfen am Wegrand leiden sahen und mit Salz versorgt hatten (wonach es ihm wieder so gut ging, dass er uns noch überholen konnte. Hat man nun davon).
Wo ist nur die Abzweigung zum Ziel???
Endlich das Ziel, und kaum waren wir durch, wurden wir vom Speaker und Organisator gleich zum Lautsprecher-Interview gerufen. Natürlich wollte er wissen, warum wir von so weit her an so einen kleinen Marathon kämen, wie es ginge, und ob wir denn wiederkommen würden...
Eine Läuferin, schlank, sehnig und zäh, stand mit dem Lorbeerkranz auf dem Rasen und sagte uns, man könne im Fluss baden, es gäbe keine Dusche. Nun ja, einen Frühling gab es hier dieses Jahr nicht, und in einen kalten Fluss steigen, der hier mehrere hundert Meter breit ist, tönte wie ein Kamikazeunternehmen. Wir waren nach ihr auch die einzigen Verrückten, die sich ins Wasser wagten. Als Kneippkur hätte sich das ja gut geeignet, aber ein echter Nordländer geniesst ein Bad zu jeder Jahreszeit, und es war auch herrlich erfrischend, um es positiv zu sagen.
Als wir auf den Rasen zurückkamen, hörte Marianne ihren Namen, und es hörte sich so an, als sei eine Siegerehrung im Gange. So schnell wir konnten, humpelten wir durchs Gras, und Marianne konnte den Preis als zweite Frau (von 7?) entgegennehmen (zum ersten Mal Preisgeld), dazu eine Medaille. Wunderbar, an so etwas hätten wir nie im Traum geglaubt.
Wir unterhielten uns noch ein bisschen, doch dann kam die Frage, wie wir zum Start zurückkämen. Eine Rückreise war nicht organisiert, denn die Staffeln hatten ja alle eigene Begleitfahrzeuge dabei. Doch der Speaker rief kurz aus, wer wohl in die Richtung fahren würde, und 3 Minuten später hatten wir unsere Mitfahrgelegenheit. Die Fahrt kam uns dann unendlich lang vor, obwohl wir uns prächtig unterhielten, und zeigte uns, wie gewaltig die Strecke gewesen war.
In Vindeln liessen wir uns es nicht nehmen, bei den berühmten Stromschnellen vorbeizufahren, eine Waffel mit Konfi zu essen und den Rundweg um und über die "Forsen" zu machen (nochmals 5km, aber es war ein wundervolles Auslaufen in schönster Abendsonne).
Dann ging es zurück nach Lycksele in unser Lieblingsrestaurant, und wir gönnten uns als erste richtige Mahlzeit ein Plankstek (Ochsfilet) und ein Bier von Höga Kusten, einer bergigen Gegend weiter südlich.
Ja, das war er, unser Marathon, ein wie gesagt unglaubliches und schönes Erlebnis. Härter als erwartet, aber auch viel schöner, eine schöne Erfahrung und ebenso schöne Medaille reicher...
Diese Begeisterung kann nicht einmal durch den kapitalen Sonnenbrand, den wir zuhause vor dem Spiegel entdecken, getrübt werden.
Vindelälvsloppets Marathon 3:53:43 Stunden
5:32 Min./km / Puls 159
+ 95 hm / - 175 hm - (Andi + 275 / - 350 hm)
19-22° bewölkt bis schön, heiss, 29 km/h WNW-Wind
2. von 7 Frauen
7. von 19 Läufern
Track https://connect.garmin.com/modern/activity/823431076