Zum 20. Geburtstag des Jungfrau Marathon werden in Interlaken 8000 Läufer zu zwei Austragungen erwartet, mehr als jemals zuvor an einem Berg-Marathon. Gleichzeitig findet die Langdistanz Berglauf Weltmeisterschaft statt. Die Stadt zwischen den Seen hat sich richtig fein gemacht. Auf der Höhenmatte steht "Das Zelt". Es bietet den würdigen Rahmen für Ehrungen, Rahmenprogramm sowie die Pasta-Party, und die Startnummernausgabe und Läufermesse sind darin untergebracht. Von weitem guckt die schneebedeckte Jungfrau dem bunten Treiben zu.
Wir wollen das Wochenende auskosten und quartieren uns mit dem Wohnmobil vor Ort ein. Die Sonne scheint am Freitag Abend hochsommerlich warm, und der Schweiss rinnt, als wir im Zelt unsere Startnummern holen und uns mit neuen On-Laufschuhen, Socken, Shirt und Power-Gels eindecken.
Nachdem wir Viktor Röthlin als Athletenbotschafter beim Charity Run von "Right To Play" laufen gesehen haben, treffen wir uns mit den run4fun-Marathon-Kollegen Esther und Peter bei Beat und Silvia zum Pasta- und Fisch-Kalorien-Bunkern. Früh sinken wir voller Vorfreude auf den grossen Tag in unsere "Womo"-Betten.
Am Morgen erwache ich mit einer Jahrhundert-Migräne. Mir ist schwindlig. Das Marathon-Frühstück will nicht rutschen. Beim Essen wird mir gar noch schlecht. Ich fühle mich, als ob ich seekrank wäre, der Blutdruck scheint im Keller zu sein, und ich kann mir nicht vorstellen auch nur einen einzigen Kilometer zu rennen. Ich hab sehr selten Kopfschmerzen - warum ausgerechnet heute?!?
Um acht fahren wir nach Interlaken. In der Drogerie am Bahnhof frage ich, ob es ein sportverträgliches Mittel gegen Migräne mit Übelkeit gäbe und werde mit Travell-Kaugummi gegen Reisekrankheit und Dafalgan-Kautabletten eingedeckt. Es widerstrebt mir sehr, mit Medikamenten einen Lauf anzutreten. Ich habe das bisher noch nie gemacht. Aber ohne Chemie-Keule sehe ich keine Möglichkeit zu starten.
Wie versprochen lindert der Kaugummi die Übelkeit sofort. Wir geben unser Gepäck ab und versuchen ein paar Schritte einzulaufen. Dabei scheint der Boden unter meinen Füssen nachzugeben.
Andi rät mir von einem Start ab. Er meint, ich solle die Startnummer auf den zweiten Marathon am Sonntag umschreiben lassen. Soll nun nichts werden aus unserem gemeinsamen Erlebnis-Berg-Marathon, zu dem wir uns schon vor einem Jahr angemeldet hatten? Wir stellen uns in die hintere Hälte des Startfelds. Ich möchte unbedingt dabei sein und wünsche mir gleichzeitig, mich irgendwo in Ruhe hinlegen zu können...
Vor lauter Überlegen, was ich nun tun soll, habe ich gar keine Zeit vor dem Start kribblig zu werden. Schon erklingen feierliche Alphorn-Klänge, Viktor Röthlin wird als Ehrenstarter angekündigt und schliesslich lauschen wir still der Landeshymne. Noch eine Minute bis zum Start. Andi stellt fest, dass ich blutleere Lippen habe. Soll ich nun mitlaufen oder nicht? Ich muss und will es versuchen!
Der Startschuss fällt. Die Masse setzt sich jubelnd langsam in Bewegung. Kurz vor dem Startbogen könnten wir zu traben beginnen. Wir überschreiten die Zeitmessmatte, es gibt kein Zurück mehr - wir sind unterwegs!
Erstaunlicherweise tragen mich meine Füsse zuverlässig den Höheweg entlang und der tosende Applaus des Publikums beflügelt. Das Schwindelgefühl ist weg, und mein Puls bleibt ganz ruhig. Als wir zur Umrundung der Höhenmatte abbiegen, müssen wir bereits bremsen.
Wir haben uns vorgenommen die flachen Abschnitte in unserem Longrun-Tempo von 5:40 Min./km zurückzulegen und den ganzen Marathon höchstens knapp mit Mitteltempo-Durchschnittspuls (unter 148) zu bewältigen. Letztes Jahr waren wir so nach 5:21 Stunden ins Ziel gekommen, und für heute hatten wir uns 5:18 vorgenommen. Doch ich kann mir noch nicht vorstellen, es bis auf die Kleine Scheidegg zu schaffen...
Der Jungfrau-Marathon ist unglaublich abwechslungsreich, ein gigantisches Feuerwerk für alle Sinne. Die eindrücklichen Bilder der Läufer vor der atemberaubenden Bergkulisse von Eiger, Mönch, Jungfrau und Silberhorn sind weltberühmt. Für meine 5. Teilnahme hatte ich mir ausgedacht, einmal besonders darauf zu achten, was es bei diesem Marathon zu hören gibt.
Noch sind meine Antennen nach innen gerichtet. Ich bin sehr überrascht, wie gut sich das Laufen anfühlt, die Werte auf der Pulsuhr stimmen (5:36 Min./km mit 121 Durchschnittspuls auf den ersten drei Kilometern) und die Kopfschmerzen werden langsam erträglicher.
Als wir zum zweiten Mal auf die Startgerade einbiegen, nehme ich optimistisch den Fotoapparat hervor.
Die Zuschauer feiern uns mit unermüdlichem Applaus, es wird heftig auf die Plakatwände getrommelt, und Ratschen und Glocken heben den Geräuschpegel weiter an. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, während wir beim Bahnhof Ost endgültig auf die Strecke und bergwärts geschickt werden. Ich bin so glücklich mit dabei zu sein, und es läuft doch gut!
Auf dem Weg nach Bönigen wird es ruhiger. Wir bewältigen bei der Autobahn-Unterführung die ersten Höhenmeter. Beim Verpflegungsposten Nummer eins nehmen wir vom letzten Tisch einen Becher Wasser, um unsere Schirmmützen nass zu machen. Die Morgensonne hat bereits grosse Kraft, und es ist uns schon recht warm geworden.
Es geht über die rauschende Lütschine nach Bönigen hinein und wir machen einen kurzen Abstecher zum türkisblauen Brienzersee. Ich freue mich auf die Trychlergruppe, welche jedes Jahr am Dorfausgang steht. Das überwältigend intensive Glockengeläut ist bis tief in die Brust zu spüren und versetzt uns einen Energieschub. Die ersten Kilometer verfliegen unglaublich schnell.
Eine lange Gerade führt uns dem Flugplatz entlang. Auf halbem Weg nach Wilderswil schluckt eine Holzbrücke mit markanter Höhenmarkierung den Läuferstrom. Es sieht fast so aus, als wolle sie uns mit giftgrünen Zähnen bewehrt in ihrem dunkeln Rachen verschlingen. Die Brücke lässt uns aber unbehelligt über ihren Holzboden trippeln und spuckt uns auf der anderen Seite in den willkommenen Schatten aus. Das Sprudeln der Lütschine, der wir nun direkt folgen, wirkt zusätzlich kühlend. Wir erreichen die 10 Kilometer Marke bereits nach 55:43 Minuten (Pace 5:34 Min./km).
Die Zuschauer stehen Spalier und feuern uns eifrig an, während wir in Wilderswil auf Kopfsteinpflaster zu einer weiteren sehenswerten Holzbrücke hochlaufen. Ab hier beginnt das Höhenmeter-Sammeln endgültig. Eine Gruppe von Trommlern heizt uns hinter der Brücke tüchtig ein, und wir nehmen den ersten happigen Anstieg nach Gsteigwiler hoch beschwingt unter die Füsse.
Wir verlangsamen auf Jogging-Tempo und gewinnen trotzdem eindrücklich schnell an Höhe. Nur 10 Minuten später sind 1.6 Kilometer und 65 Höhenmeter bewältigt. Und die Einwohner von Gsteigwiler nehmen uns mit Festlaune in Empfang.
In der Ferne sind bereits die Schneeberge zu sehen. Doch vorerst zieht uns der plätschernde Dorfbrunnen an. Wir tauchen unsere Mützen und meinen Schwamm ins kühle Wasser, erfrischen uns gründlich, und ich kühle meinen immer noch leicht schmerzenden Kopf.
Am Dorfausgang spielt eine Steel-Band fetzigen Blues.
Kurz darauf gibt der unendliche Marathoni-Tatzelwurm wieder den Ton an. Der wohlklingende Rhythmus von Läuferfüssen, welche auf der staubigen Strasse leicht bergab Zweilütschinen entgegen "fliegen", tönt auch wie Musik in unseren Ohren. Auf diesem Abschnitt läuft es sich leicht. Ich könnte jubeln vor Freude. Die Lütschine glitzert wie ein silbernes Band, es duftet nach frischem Heu. Die Sonne steht schon hoch am Himmel und taucht das rasch enger werdende Tal in intensive Farben. Wir kneifen die Augen zusammen, denn Staub liegt in der Luft, und das Licht ist sehr grell. Der Hochsommer meldet sich noch einmal mit voller Kraft zurück.
Den Bahnhof Zweilütschinen erreichen wir eineinhalb Minuten früher als geplant. Während wir über eine Wiese geführt werden, nehmen wir uns vor, die restlichen knapp fünf Kilometer nach Lauterbrunnen, auf denen es 150 Höhenmeter zu überwinden gilt, etwas gemütlicher zurückzulegen. Wir nehmen uns Zeit, die Wasserflaschen neu zu füllen und traben dann im Jogging-Tempo die Schotterpiste hinan.
Unsere stetige Begleiterin, die milchig weisse Lütschine tost hier als Wildwasser zwischen mächtigen Felsbrocken hindurch oder rauscht über grosse Stufen talwärts. Es ist herrlich kühl und feucht an ihrem Ufer. Der Läuferstrom fliesst hier besser als in anderen Jahren. Als der Weg zum engen, mit Geländer gesichertem Trail über dem Fluss wird, geraten wir keinen Moment ins Stocken.
Auf der anderen Talseite rollt ein Zug langsam mit quietschenden Rädern bergan. Er ist voller Zuschauer und Begleitpersonen, welche aus den Fenstern lehnen, Fahnen schwenken, mit Glocken bimmeln und uns Läufer lauthals anfeuern. Wir winken fröhlich zurück und nehmen die steile Kurve bei Kilometer 18 in Steinhalten mit Anlauf. Immer wieder schweift mein Blick hoch zum eindrücklichen Silberhorn mit seinem makellos glatten, weissen Schneekleid.
Bei Elektrizitätswerk müssen wir den Kopf einziehen, damit wir durch den Fussgänger-Tunnel passen. Und gleich darauf überqueren wir die schäumende Lütschine auf den etwas altersschwachen Holzplanken der geschwungenen Lochbrücke, die unter dem Getrappel der vielen Dutzend Füsse in Schwingung gerät.
Bei Kilometer 19 wechseln wir noch einmal auf die andere Fluss-Seite. Die rollende Zug-Tribüne fährt hoch über uns in den Bahnhof von Lauterbrunnen ein, direkt über unsern Köpfen knattert der Fernseh-Helikopter und schwach ist bereits die Speakerin zu hören.
Mir fällt auf, dass ich bis hierhin noch gar nichts gegessen habe. Wasser und Salz hatte ich hingegen regelmäsig und reichlich zu mir genommen. Ich wage einen ersten Schluck aus dem mitgetragenen Fläschchen mit den drei verdünnten Winforce-Gels zu nehmen und hoffe, dass der Magen ruhig bleibt.
Bei der ARA und entlang des Parkhauses erwartet uns eine saftige Steigung hinauf zum Dorf. In früheren Jahren hatte mich diese zum Gehen gezwungen. Diesmal traben wir locker hoch, und es ist eine Wohltat, unter der fest montierten Gardena-Dusche hindurch zu laufen. Die wenigen Zuschauer, die sich an diesem anspruchsvollen Strecken-Abschnitt positioniert haben, sprechen uns motivierend direkt mit unseren Namen an, die auf der Startnummer zu lesen sind. So lässt sich auch die letzte Kurve auf die Hauptstrasse hoch gut schaffen.
Die Feststimmung in Lauterbrunnen wirkt wie ein Sog. Wir spüren kaum, dass es weiter aufwärts geht. Die Speakerin gratuliert uns allen zur bewältigten ersten Streckenhälfte, lautes Trychel-Geläut verbreitet Alpaufzugstimmung, und das Publikum spendet grosszügigen Applaus. Über der Strasse und an den Hausfassaden hängen Schweizer- und Berner-Fahnen sowie Jungfrau-Marathon- und Lauterbrunnen-Flaggen. Und zur rechten Seite des engen Trogtales nieselt der zauberhafte Staubbachfall fast 300 Meter über eine Felswand in die Tiefe.
Abwärts und dorfauswärts gehts nun diesem faszinierenden Naturschauspiel entgegen, das Goethe zum Gedicht "Gesang der Geister über den Wassern" inspirierte. Wir schnappen uns an der Verpflegungsstelle zwei triefende Schwämme und erreichen die Halbmarathon-Marke nach 2:03:31 Stunden.
Es ist Zeit Zwischenbilanz zu ziehen. Wir sind 2:40 Minuten schneller unterwegs als geplant. Letztes Jahr kamen wir mit höheren Durchschnittspuls-Werten vier Minuten später hier vorbei. Trotzdem nehmen wir uns erneut vor, uns zu mässigen und nicht noch mehr Zeit gut zu machen. Obwohl wir nun einen Halbmarathon geschafft haben, ist noch lange nicht die halbe Laufzeit bewältigt und schon gar nicht die Hälfte der Höhenmeter. Wir haben erst deren 300 auf dem Konto, und 1'500 werden noch folgen!
Der Blick die Felswand auf der linken Talseite hoch flösst Respekt ein. Weit oberhalb der Steilwand werden wir auf dem 36. Kilometer in etwa eineinhalb Stunden unterwegs sein!
Doch jetzt können wir uns einen Moment entspannen und Atem schöpfen. Die Fünf-Kilometer-Schlaufe durchs Lauterbrunnental führt mehrheitlich sanft bergab, noch dazu zu einem Grossteil im Schatten. Wir überqueren abermals die Lütschine und den Trümmelbach. Dann schickt uns eine weitere Steelband talauswärts. Die exotischen Klänge der Steel Pans passen zu der steigenden Hochsommer-Temperatur.
Wir düsen fast im Marathon-Tempo auf der breiten Asphaltstrasse der Helibasis der Air Glacier entgegen und geniessen diese letzten Augenblicke des Übermutes.
Auf dem schmalen Weg dem Campingplatz und der rauschenden Lütschine entlang finden wir dieses Jahr keinen Flow. Das Feld ist hier sehr dicht, man kann nur schwer überholen und eine Läuferin fällt direkt vor meinen Füssen der Länge nach hin.
Unbarmherzig scheint die Mittagssonne auf uns nieder, mein rechtes Grosszehen-Grundgelenk zwickt seit dem schnellen bergab Laufen, und ich freue mich auf die bevorstehende lange Gehpause!
Am Ende der Schlaufe durchs Lauterbrunnental decken wir uns in Ey erneut mit Wasser ein, denn ein paar hundert Meter weiter folgt die berüchtigte Rechtskurve, die zur "Wengener Wand" hoch führt. Abgesehen von der Eigergletscher-Moräne folgen jetzt die steilsten Kilometer. Wir wechseln, wie die meisten Läufer um uns herum in einen strammen Bergwander-Schritt.
Die Gespräche verstummen, während wir uns aufmachen, fast zwei Dutzend steile Serpentinen zu erklimmen. Still ist es jedoch keineswegs in der "Wand". Steine knirschen unter den Laufschuhen, wir Läufer atmen schwer, nur die Wengernalp-Bahn rattert dank Zahnrad scheinbar mühelos den Berg hinan. Wir kommen in den Genuss von viel Aufmunterung durch die Bahn fahrenden Fans.
Und auch die jüngsten Helfer der Marathon Crew, welche unermüdlich mit kleinen Kälberglocken bimmeln, sind ein Riesen-Aufsteller. Dankbar rühmen wir sie für ihre Ausdauer. Sie schwenken ihre Glocken bestimmt schon eine Stunde lang und werden eine weitere durchhalten müssen!
Ablenkung bietet auch der atemberaubende Tiefblick ins Lauterbrunnental, den wir bereits nach wenigen Kletter-Minuten geniessen können.
Damit die unendlich langen Kilometer nicht zu lang erscheinen, gibt es nun alle 250 m eine Streckenmarkierung.
Wir marschieren Kräfte sparend, nutzen die Gehpause zum Trinken und Salztabletten lutschen, und ich stelle erfreut fest, dass mein Puls kaum über 150 steigt.
Als endlich das 27. Kilometerschild auftaucht, fragen wir uns doch, ob wir uns zu stark zum Bummeln haben verleiten lassen. Mit 14:11 Minuten schlägt dieser Kletter-Kilometer zu Buche. Doch wir haben dabei auch ganze 200 Höhenmeter überwunden! Und die halbe Laufzeit sollte nun geschafft sein.
Über uns thront ein Haus am Abgrund. Zuerst nur ganz leise, dann immer lauter ist wie jedes Jahr "The Wall" von Pink Floyd zu hören - "...all in all you're just another brick in the wall..." Obwohl die "Wand" sehr fordernd ist, geniessen wir es im Strom der mehreren tausend Läufer dabei zu sein. Zum Glück wissen wir aus Erfahrung, dass die "Wand" bald zu Ende sein wird, wenn man "The Wall" nicht mehr hören kann!
Bald werden die Serpentinen flacher, wir können wieder ein paar Schritte joggen und machen beim nächsten Versorgungsposten einen kurzen Halt zum Erfrischen. Dann üben wir uns auf dem schmalen Feldweg nach Wengwald im Slalom Laufen.
Andi findet leichter wieder in einen flüssigen Laufrhythmus zurück als ich. Nach einem kurzen Fotostopp tragen mich meine Beine jedoch gut hinunter zum äussersten Punkt auf der Sonnenterrasse von Wengen.
Wir werden bestens umsorgt. Bevor es auf einer steilen Rampe zum berühmten, autofreien Ferienort Wengen hoch geht, können wir uns erneut abkühlen.
Wir haben das Gefühl, es gemütlich zu nehmen und gehen deutlich mehr als in anderen Jahren. Hier hoch zu hetzten wäre auch zu schade. Die Aussicht ist einfach gewaltig! Und die eigene Leistung ist wohl an keiner Stelle deutlicher zu sehen als hier. Erst vor einer Stunde waren wir zur Schlaufe durchs Lauterbrunnental aufgebrochen. Nun liegt es tief unter uns. Und wir schauen sogar bereits auf die Felswand hinuter, über die sich der Staubbachfall ergiesst.
Der Blick voraus ist noch atemberaubender. Die Jungfrau zeigt sich, der ewige Schnee auf dem Silberhorn gleisst in der Sonne, und darunter können wir unseren Weg zur Mettlenalp erahnen.
Ich darf nicht zu weit voraus denken. Es ist Mittag geworden, wir laufen nun direkt der Sonne entgegen, und ihre Kraft ist sehr deutlich zu spüren. Meine Kopfschmerzen sind noch nicht verschwunden, und ich freue mich über jeden flachen Meter und jedes Fleckchen Schatten.
Auf dem folgenden Kilometer kommen wir in den Genuss von beidem. Im Schatten von Bäumen erreichen wir bei Kilometer 30 die Kirche von Wengen, dann können wir abwärts auf der geschmückten Hauptstrasse dem Trubel im mondänen Wengen entgegen rennen. Die Stimmung, die hier herrscht, kann es mit jedem Stadtmarathon aufnehmen. Hier spenden uns auch Touristen aus Fernost Applaus, während wir zwischen Restaurants, Hotels und Souvenirshops unter rotweissen Girlanden dem gelben Post-Bogen und einer weiteren Zeitmessmatte entgegen laufen.
Seit 3:14:31 Stunden sind wir unterwegs, und es warten immer noch 1000 Höhenmeter auf uns. Andi hat noch genügend Energie, unsere Etappenzeit auszurechnen. Wir sind sehr überrascht, dass wir nur 47:02 Minuten für den Weg von Ey nach Wengen gebraucht haben. Seit dem Halbmarathon sind 1:11 Stunden vergangen, und unser Vorsprung auf die selber errechnete Marschtabelle ist auf dreieinhalb Minuten angewachsen.
Wir lassen die Zuschauermassen hinter uns und marschieren beim Hotel Regina die steile Rampe hoch. Unser Weg führt abwärts an einer kleinen Kirche vorbei und hinter der Männlichen-Seilbahn-Talstation hindurch. Wir verlieren ein paar der mühsam erarbeiteten Höhenmeter, können aber so mit Schwung zu der Schlaufe durch Wengen ausholen. Früh genug geht es wieder bergan, und der Jubel, die Meldungen des Speakers und die Musikklänge verebben langsam.
An der Steigung zum Hotel Beausite hoch entdecken wir den treuen Jungfrau Marathon Fan Felix. Er unterstützt hier seine vielen Bekannten mit verdünntem, geschüttelten Cola und hat so meine allererste Teilnahme gerettet. Heute vertraue ich lieber auf meine Winforce Ultra Energy Gels, doch Andi nimmt gerne einen Schluck des koffeinhaltigen Getränks.
Locker joggen wir beim Schwimmbad vorbei, nehmen unter der Bahnlinie hindurch Anlauf und wechseln auf der Etappe zur Allmend hoch zum Power-Wandern, bevor wir die letzten Häuser Wengens passiert haben. Die Kühe lassen sich vom bunten Umzug nicht beim Wiederkäuen stören.
Genau die Hälfte der Höhenmeter liegen jetzt noch vor uns, und wir nehmen uns zum x-ten Mal vor, es nun noch etwas gemütlicher zu nehmen! Das Pace-Band an meinem Handgelenk soll ja nur eine Unterstützung sein, den Lauf regelmässig einzuteilen. Unsere heutige Erlebnis-Lauf-Traum-Finisher-Zeit von 5:17:55 müssen und sollen wir ja nicht noch minutenweise unterbieten!
Obwohl mein Puls wunschgemäss 150 immer noch nicht übersteigt, ist der Marsch die steile, unendlich scheinende Rampe zur Allmend hoch und direkt der Sonne entgegen kein Spaziergang! Die knapp drei Kilometer lange Etappe will nicht enden.
Wir sind dankbar für jede noch so kleine Ablenkung. Ich nehme eine Dusche unter einem Gartenschlauch, wir freuen uns über das begeisterte Zug-Publikum und geniessen die Aussicht. Ein Blick zurück bestätigt, dass wir toll vorwärts kommen und rasch an Höhe gewinnen, obwohl wir das Gefühl haben, schneckenmässig langsam zu sein. Wengen liegt schon weit zurück.
Schliesslich lassen wir uns von den schrägen Guggenmusik-Tönen die letzten Meter zur Allmend hochziehen.
Unser Zeitvorsprung ist seit Wengen um eine gute Minute geschrumpft.
Jetzt folgt, abgesehen von der spektakulären Moränen-Etappe, meine Lieblings-Bergstrecke. Bis zur Wengernalp gibt es auf knapp fünf Kilometern 340 Höhenmeter zu bewältigen. Diese Steigung liegt meinem Motor, der flache Marathons bevorzugt.
Der breite, steinige Fahrweg verläuft in sanften Wellen bergan und ist an einigen Stellen beinahe flach. Marschieren und Laufen wechseln sich ab, manchmal können wir sogar recht zügig rennen. Und es gibt reichlich Schatten auf diesem Abschnitt!
Publikum hat es kaum mehr, die WAB-Bahnstationen sind wohl zu weit entfernt. So geniessen wir die Stille und das Rauschen von kleinen Bächen. Das Schweigen der Läufer wirkt jedoch fast ein bisschen bedrückend. Konzentriert sind die Blicke auf die staubigen Schuhe gerichtet. Man könnte fast meinen, ein Trauerzug sei unterwegs. Dabei gäbe es so viel Schönes zu sehen.
Wir kommen den Berg-Giganten immer näher, nach rechts öffnet sich der Blick bis nach Mürren und zum Schilthorn, und über uns wölbt sich der weite, wolkenlose, stahlblaue Himmel. Was für ein weltmeisterlich schöner Tag. Unsere schönen Berge in diesem Licht zu sehen muss ein gewaltiges Erlebnis sein für die aus 70 Ländern angereisten Teilnehmer!
Jetzt befinden wir uns ziemlich genau oberhalb der Wendeschlaufe, die wir vor 100 Minuten in der Tiefe des Lauterbrunnentales gelaufen waren. Es ist ein Uhr, seit vier Stunden sind wir unterwegs, und Andi erinnert sich daran, dass er im Alltag bis um diese Zeit bereits mindestens vier Kaffees getrunken hat. Er gönnt sich ein Sponser-Blackberry-Coffein-Gel und wird sofort wieder gesprächiger.
Ich habe erst die Hälfte meiner drei Winforce-Gels verbraucht und wage weiterhin nur kleine Portionen davon zu mir zu nehmen. Dass die Übelkeit zurückkehrt, will ich auf keinen Fall riskieren. Ich achte aber weiterhin auf reichliches Trinken.
Kleine Kinderhände reichen uns bei Kilometer 36 fleissig Wasserbecher. Wir füllen unsere Vorräte, bevor wir uns joggend aufmachen, einen der erhebendsten und beeindruckendsten Momente auf dem Weg zur Kleinen Scheidegg zu erleben.
Auf der Mettlenalp laufen wir aus dem Wald hinaus und sehen die Eisriesen Eiger, Mönch und Jungfrau direkt vor uns. Und unterhalb des Eigergletschers sind winzige bunte Ameisen zu erkennen, die im Zickzack vor der Loucherflue den Hang hoch streben. Nur noch zwei Kilometer, und wir werden es ihnen gleichtun!
Eine Kehre noch und ein Blick zurück nach Mürren, wir tauchen unsere Mützen und den Schwamm unbeirrt ins trübe Wasser eins Holz-Brunnentroges, der als Viehtränke dient, und freuen uns darüber, dass es wieder mehr Publikum hat. Auf den letzten hundert Metern zur Wengernalp hoch werden wir immer häufiger direkt beim Namen genannt und persönlich motiviert.
Kurz vor dem Kontrollpunkt und der Bergab-Strecke zur Skilift-Talstation Wixi stehen die Zuschauer gar wieder Spalier. 1:11:42 Stunden sind vergangen, seit wir durch Wengen gelaufen sind, und wir sind unserem Plan immer noch eine Minute voraus.
Wir fragen uns, auf welchen Weg zur Moräne wir unten wohl geschickt werden. Momentan laufen die Läufer nach rechts auf die Originalstrecke. Wir überschreiten die Kuppe und können es ein paar Augenblicke rollen lassen. Meine Beine haben keine Mühe auf abwärts Rennen umzustellen. Andi nimmt es etwas ruhiger. Unten wendet sich das Blatt jedoch sofort.
Direkt vor uns wird die Originalroute gesperrt, und wir werden links herum auf die Entlastungs-Strecke geschickt. Ich finde den optimalen Tritt auf dem schräg abfallenden Grasweg nur schwer. Da wir zu den Ersten gehören, die nach einer Pause diesen Weg beschreiten, ist dieser frei. Wir können ungehindert in unserem Tempo hochwandern. Doch Andis Tempo ist nicht mehr mein Tempo. Ich muss mir richtig Mühe geben, für die nachfolgenden Läufer nicht zum Hindernis zu werden!
Andi erlebt die Alternativ-Strecke zum ersten Mal. Ich hatte bereits 2009 damit Bekanntschaft geschlossen. Doch damals war es direkt nach einer Gewitternacht sehr schwierig gewesen auf der Graspiste voranzukommen.
Diese Variante beginnt sanfter als der Bergweg rechts herum. Die grosse Schlaufe, die es nach links zu absolvieren gilt, ist zuerst verborgen. Und am Schluss geht es stark ansteigend zur Haaregg hoch, während die Läufer rechts über uns abwärts dem Verpflegungsposten, den Fahnenschwingern und Alphornbläsern entgegen traben können.
Weil dieser Weg (fast) unbekannt ist, ist beinahe jeder Schritt ein Abenteuer und die Alternativ-Schlaufe kurzweilig. Schliesslich dürfen wir auch in die urschweizerische Atmosphäre auf der Haaregg eintauchen.
Diesmal empfinde ich das Einspuren auf den schmalen Trail ganz anders als bei den bisherigen Teilnahmen. Da wurde ich am Fuss der Loucherflue immer gebremst und konnte, da Überholen fast unmöglich ist, locker hochsteigend einfach mit dem Strom mitschwimmen.
Doch diesmal krabbelt die bunte Ameisenstrasse sehr flink den Grashang hoch. So gut es geht drücke ich mich an den Rand des schmalen Weges und lasse immer wieder Läufer überholen.
Bald steigt Andi 10, 20 Meter vor mir den Berg hinan. Obwohl ich immer noch nur mit einer Herzfrequenz von 150 unterwegs bin, kann ich kaum mehr beschleunigen. Ich habe zwar nicht die geringste Spur von Krämpfen. Doch meine Energie-Speicher laufen langsam leer. Mir geht die Kraft in den Beinen aus, und ich habe das Gefühl kaum mehr voranzukommen.
Sogar hier im total unwegsamen Gelände wird uns eine Trinkstelle geboten. Andi nimmt sich Zeit einen Becher Wasser zu geniessen. Und ich kann wieder aufholen.
Zusammen biegen wir auf die berühmt berüchtigte Moräne ein. Andi reicht mir die Hand, und mit etwas Unterstützung komme ich wieder besser voran.
Ein Heli steigt aus dem Tal empor und fliegt in nächster Nähe der Moräne entlang. Als er abdreht ist der Dudelsack-Spieler zu hören. Bald werden wir die Moräne bewältigt haben. Eigentlich ist dieser eindrückliche Abschnitt immer viel zu schnell vorbei. Man wünscht sich bald zur Loucherflue abbiegen zu können und möchte doch gleichzeitig noch lange aus nächster Nähe die Bergriesen bewundern.
Zweimal schaue ich auf meine Uhr, als wir oben angekommen unsere Zwischenzeit stoppen.
5:05:17 Stunden sind wir unterwegs. Und bis zum Ziel brauchten wir erfahrungsgemäss nur zehn Minuten. Wow - wir haben die Moräne viel schneller bewältigt als ich gedacht hatte!
Es tut dennoch gut zu wissen, dass wir in nur drei Minuten den höchsten Punkt erreichen werden. Die ersten Schritte von der Moräne runter geht es bergab. Wir laufen vorsichtig los, dann queren wir den Hang joggend und bewältigen die letzten Höhenmeter fast ein bisschen euphorisch.
Grosszügig werden wir mit Lob für unsere Grosstaten überhäuft. Helfer strecken uns Schachteln mit Schokoladen-Stückchen entgegen. Und viele starke Hände sind bereit uns zu stützen, als wir die Felsen-Treppen-Stufen auf der Loucherflue überwinden.
Kleine Scheidegg wir kommen!
Wir vereinbaren, uns nicht blindlings und ungebremst dem Ziel entgegen zu stürzen. Kontrolliert rennen wir am 41 Kilometer Schild vorbei und dem türkisblauen Speichersee entgegen.
Dann gibt es doch kein Halten mehr. Das Zuschauerspalier wird eng und enger. Der Zielbogen zieht uns magisch an, und wir fliegen mehr als dass wir rennen, während wir glücklich die Ziellinie überqueren.
Wir strahlen wie Sieger, als uns die Helfer im Ziel gratulieren und uns die wunderschöne Finsiher-Medaille um den Hals hängen. Schlichtweg nicht in Worte zu fassen ist das Glück, die Freude, Erleichterung und Dankbarkeit über dieses wunderschöne Lauferlebnis! Was für ein Lauf, was für ein einmalig schöner Tag! Wir könnten die ganze Welt umarmen!
Während wir am Rugenbräu Stand anstehen, um mit einem Becher alkoholfreiem Bier anstossen zu können, freuen wir uns, dass unser Marschplan so gut aufgegangen ist. Wir werfen nur einen kurzen Blick auf unsere Uhren.
Mit lediglich 146 Durchschnittspuls (Andi 145) haben wir diesen Longrun-Berg-Marathon bewältigt! Und es wird uns klar, weshalb er sich anstrengender angefühlt hat, als unser letztjähriger Erlebnis-Jungfrau-Marathon. Mit einer Laufzeit von 5:15:40 sind wir dieses Jahr fast sechs Minuten früher ins Ziel gekommen, und ich war dabei nur 12 Minuten langsamer als bei meinem PB-Lauf 2008...
Genug gerechnet! Jetzt wollen wir die fröhliche Atmosphäre im Ziel ausgiebig auf uns wirken lassen und die Zeit ein bisschen anhalten. Wir legen uns eine Weile ins Gras, nippen am kühlen Bier, versuchen uns an den eindrücklichen Bergen satt zu sehen, beobachten wie unsere Mitläufer glücklich im Ziel ankommen und hören, dass der Speaker einen blinden Finisher aus den Niederlanden interviewt.
In perfektem Deutsch dankt der Blinde für die grosse Rücksicht, die die Sehenden ihm entgegengebracht hätten, und er schwärmt von der einzigartigen Atmosphäre an diesem Lauf. Da wir heute besonders darauf geachtet hatten, wie der Jungfrau Marathon "tönt", können wir uns gut vorstellen was er meint. Unvorstellbar ist jedoch, wie er ohne Sehkraft die steilen Bergwege sicher und kaum langsamer als wir bewältigen konnte. Und ich hoffe, dass er die atemberaubende Schönheit der Bergwelt als Lohn für seine Mühe spüren kann!
Als wir uns zum Abholen unseres Gepäcks aufmachen, haben sich die Beine schon sehr gut erholt. Unter der warmen Dusche befreien wir unsere Knöchel und Waden von einer dicken, grauen Staubschicht und waschen die Salzkrusten vom Gesicht.
Wir treffen uns mit Beat beim Tipi, stärken uns mit einer Riesenportion Rösti und stossen mit einem weiteren Erdinger an.
Ein fröhlicher Grillabend mit dem run4fun Marathon-Team rundet diesen Traum-Tag ab. Merci Beat und Silvia für eure Gastfreundschaft!
Am Sonntag früh starten wir zu einem weiteren Marathon. Nein wir laufen kein Double!
Wir absolvieren einen Bahnreise-, Foto- und Anfeuer-Marathon, dürfen an Hugos Freude an seinem Erlebnis-Jungfrau-Marathon teilhaben und erleben Andreas starke Berg-Marathon-Premiere mit.
Und wir feuern Jeannine und Patrick in Wilderswil, Lauterbrunnen, Wengen und auf der Wengernalp an. Die beiden schnüren die Marathon-Schuhe tatsächlich zweimal. Es ist eindrücklich zu beobachten, wie sie von Etappe zu Etappe aufdrehen und dabei immer frischer wirken. Wir können kaum schnell genug von der Wengernalp auf die Kleine Scheidegg wandern, um den glücklichen Doppel-Double-Finishern im Ziel zu gratulieren. Beide absolvieren den zweiten Marathon schneller als den ersten und sind dabei schneller unterwegs als wir gestern...
Es ist schwierig zu sagen, was schöner ist, die Freude an der eigenen Leistung oder das Mitfreuen an den Erfolgen unserer Freunde. Dieses einmalige Wochenende wird auf alle Fälle unvergesslich bleiben!!!
Jungfrau Marathon
42.195 km + 1829 hm
5:15:40 / 7:28 Min/km / Puls 146
14 bis ca. 22° strahlend sonnig
Track http://connect.garmin.com/activity/220312321
Hej Marianne,
AntwortenLöschenDu schreibst deine Berichte so leidenschaftlich wie du den Laufsport betreibst, super!
Das Jungfrau Mrathon Wochenende wird uns allen bestimmt immer in Erinnerung bleiben, schöner hätte es wirklich nicht sein können.
Viele Grüsse und viel Energie für die nächste Marathonvorbereitung
Hugo
Danke vielmals Hugo.
AntwortenLöschenDas Schreiben ist für mich ein wichtiger Teil der Regeneration nach einem Lauf. Es hilft der Seele beim Verarbeiten der vielen Eindrücke genauso wie die Physio den Muskeln...
Auch dir viel Freude und Erfolg für die folgenden Marathon-Trainingswochen!
Gruss Marianne