Nachdem sich Hugo für den Marathon nachgemeldet hat, verbleiben immer noch zwei Stunden bis zum Start! Im Festzelt treffen wir die lätti runners Diana und Lenka (sie wird ihren ersten Halbmarathon laufen) und Fränzi, die heute als unser Coach dabei ist. Die Hochsommerwärme lässt uns deziliterweise Wasser trinken, und unser Plaudern und Fachsimpeln wird durch manchen Toi-Toi-Besuch unterbrochen.
Die Radbegleiter der 100-Kilometer-Läufer werden auf den Weg geschickt. Wir geben unsere Rucksäcke für den Transport nach Oberramsern ab und laufen ein paar hundert Meter auf der Laufstrecke ein. Ein sanftes Lüftchen weht, die Häuserreihen und Strassen strahlen aber noch die Sonnenwärme des Tages ab, und nach wenigen Minuten Anstrengung ist mir so warm, dass ich an einem Brunnen Halt mache, um meine Haare und das Shirt zu benetzen.
Rechtzeitig zum stimmungsvollen Start der Hauptakteure der Bieler Lauftage sind wir zurück beim Kongresshaus. Um 22 Uhr beginnt ihre lange Reise, die bis zum Morgen oder gar Nachmittag dauern wird! Während das Riesenfeld der 1'360 gemeldeten 100-Kilometer-Läufer am begeisterten Publikum vorbeiströmt, erscheint unser Vorhaben 42.2 Kilometer zu bewältigen plötzlich wie eine Banalität. Andererseits wundern wir uns, wer sich alles ins Feld der Ultraläufer reiht. Nicht allen ist die Fähigkeit die 2.5-fache Marathon-Distanz zurückzulegen anzusehen, und gewisse Ausrüstungen sind mehr als abenteuerlich.
Bald stehen wir unter 170 Marathonis und knapp 800 Halbmarathon-Läufern selber vor dem Startbogen. Die bevorstehende Herausforderung wirkt unvermittelt überhaupt nicht mehr banal! Die laufende Uhr wechselt zur Countdown-Anzeige 10-9-8-7...3-2-1, und mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich fühle mich stark und übermütig. Gleichzeitig flösst mir die annähernd tropische Nachttemperatur von 21° einen Heidenrespekt ein. Punkt 22:15 Uhr sind wir unterwegs.
Biel - Port - km 10
Im Gegensatz zu den Ultraläufern drehen wir zwei Runden durch die grösste zweisprachige Stadt der Schweiz und legen dabei gut sieben Kilometer zurück. Entlang des Flüsschens Schüss geht es ostwärts zum Stadtpark und zum Omega Museum, und in der anderen Richtung zu bunt mit Werbeleuchtschildern illuminierten Einkaufsstrassen und um den Kreisel beim Volkshaus "Rotonde".
Wir sind bemüht unser Tempo zu finden. Die drei Garmins zeigen zwischen den Häuserzeilen stark schwankende und völlig verschiedene Geschwindigkeiten an. Trotz prima Stirnlampenlicht kann ich meine Uhr kaum ablesen, muss mich auf Andis Zwischenzeit-Berichte verlassen, und ich ahne, dass die Pulswerte, die ich mir auf dem Arm notiert hatte, wegen der Wärme bereits Makulatur geworden sind. Ich werde enorm durstig und trinke alle paar Minuten.
Letztes Jahr schien mir die Stadt belebter, und die Tatsache, dass wir das 1. und 3. Kilometerschild des Ultralaufes zwei Mal passieren, weckt nicht eben den Eindruck, dass wir zügig vorankämen.
Die Restaurants und Strassencafés sind noch sehr gut besetzt, und plötzlich tost uns aus einem Lokal überwältigender Applaus und Jubel entgegen. Er ist jedoch nicht an die Läufer gerichtet. Die Fussball WM in Brasilien stiehlt uns ein wenig die Show, die frenetische Begeisterung gilt dem 5:1 Traumtor im Spiel Niederlande gegen Spanien ...
Endlich entlässt uns der lang ersehnte Wegweiser aus der Welt-Uhren-Metropole. Wir können es kaum erwarten aufs Land und an die frische, kühle Luft zu kommen!
In den Aussenquartieren sind noch erstaunlich viele Familien aller Hautfarben und Nationalitäten auf den Beinen - reihenweise Kinder-Händchen zum Abklatschen und Zuspruch in den verschiedensten Sprachen! "Ce n'est plus loin!", ruft uns jemand aus einem Gartenrestaurant zu. Wenn es doch wahr wäre! Unser Lauf fühlt sich anspruchsvoll an, es ist noch keinen Hauch kühler geworden. Nur mehr jeder fünfte Kilometer ist markiert und nach deren 10 ist eine Zwischenbilanz möglich. Wir sind etwas schneller als geplant unterwegs - 52:13 Minuten - 5:13 Min./km.
Port - Aarberg - km 21.1
Jetzt geht es zur Sache, wir werden automatisch gebremst! Sanft beginnt die Strecke in Port über das Regulierwehr des Nidau-Büren Kanals zu steigen. Auf gut zwei Kilometern erwarten uns bis Bellmund 100 Höhenmeter. Nach wenigen Minuten blicken wir über die Schultern zurück und machen Hugo auf das schöne Lichtermeer von Biel aufmerksam, das sich zu unserer Rechten vor der Jurakette ausbreitet. Unbeschwert kann er die Aussicht nicht geniessen. Wie aus heiterem Himmel plagen ihn Bauchkrämpfe, und er fragt besorgt, ob der Anstieg noch steiler werde...
Während Andi und ich oben angekommen über die Hügelkuppe gleiten, wechseln wir ein paar Worte mit einem grossen Läufer, der ein knallgelbes Shirt trägt. Schon viele Male hatten wir uns gegenseitig überholt, wünschen einander nun einen guten Lauf, und beginnen die steile Strasse nach Jens hinunter zu rollen.
Das "Klettern" hatte mir zugesetzt, riesiger Respekt vor der zweiten, höhenmeterreichen Passage, die auf Kilometer 26 - 30 folgen sollte, blitzt auf. Der "Gratis-Kilometer" hinunter ins Gemüseland vertreibt die düsteren Gedanken, beschert mir aber hartnäckiges Seitenstechen.
Unten angekommen füllen wir am Verpflegungsposten die Trinkflaschen auf, und ich suche vergebens nach einem Becken, in das ich meinen Schwamm tauchen könnte. Um negative Gedanken zu verbannen nehme einen ersten, winzigen Schluck Gel. Augenblicklich scheint mein Magen wie zugeschnürt. Ab diesem Moment fällt mir sogar das Wasser Trinken schwer, zusammen mit dem Seitenstechen eine buchstäblich üble Sache...
Jetzt geht es auf den Beton-Fahrweg zwischen die Felder hinaus. Der Vollmond versteckt sich noch hinter dichten Schäfchenwolken und zaubert magische Lichtstrahlen an den Nachthimmel.
Wir schauen uns ständig um, damit wir Hugo nicht verlieren, fragen nach seinem Befinden und hoffen, es gehe ihm bald besser. Diana überholt uns, wie viele andere schnelle Halbmarathonis, deren Füsse auf dem knochentrockenen Jura-Kiesweg viel Staub aufwirbeln. Ein heller Halogen-Lichtkegel kündet das Begleit-Fahrrad des führenden Staffelläufers an, der bald mit ausgreifenden Schritten vorbeiprescht. Ich schlüpfe an einer Mitläuferin vorbei, die ebenfalls eine 42.2 km Markierung am Rücken trägt, und hoffe ehrgeizig, dass sie mir nicht folgen könne. Wir holen immer mehr 100 Kilometer-Läufer und marschierende Soldaten in Tarnanzug und schweren Stiefeln ein. Ein äusserst bunt gemischter Umzug von Sportlern mit den unterschiedlichsten Zielen und Ambitionen bewegt sich durch die "Nacht der Nächte". Hundert Meter vor und hinter uns hüllt die Dunkelheit die Läufer ein. Nur der langsam dahin fliessende Strom von roten, weissen und reflektierenden Licht-Punkten zeugt von deren Anwesenheit. Ein faszinierendes Bild!
Am Ortsrand von Kappelen werden wir von einem halben Dutzend Alphornbläsern empfangen, beim Restaurant Kreuz steht ein Festzelt, und das angekündigte Volksfest zu Ehren des 100ers ist in vollem Gange. Die engagierte Unterstützung und das ehrliche Interesse der Bevölkerung an "ihrem" 100er ist sehr motivierend und berührend.
Feierlaune will sich bei mir nicht einstellen. Auf der breiten Strasse nach Aarberg wirkt das Tempo langsamer als auf den schmalen Feldwegen, meine Energie schwindet rasch und das flaue Gefühl im Magen nimmt zu. Ich weiss, dass Fränzi am Stadtrand wartet um uns Wasserflaschen zu reichen. Der Gedanke bereits hier ins Ziel zu laufen und Fränzi darum zu bitten, mich nach Hause zu chauffieren, ist äusserst verlockend. Als wir einander begegnen, schenkt ihr Zuspruch einen Funken Kraft, ich fasse die Wasserflasche, fülle meinen Vorrat auf, kühle mit dem Rest meinen Kopf und weiter geht's.
Tosender Applaus begleitet uns über die Jahrhunderte alte, berühmte, wunderschöne Holzbrücke und trägt uns in den kleinen Häuserkreis der Altstadt. Die Halbmarathon-Läufer spurten ins Ziel auf dem Marktplatz, auf dem bereits die Sieger dieses Wettbewerbs geehrt werden - Jubel ohne Ende!
Unsere Zwischenzeit lautet 1:53:25 Stunden - 5:23 Min./km. Kaum haben wir die Zeitmessmatte passiert, sind die wenigen hundert Meter auf Kopfsteinpflaster zurückgelegt, und ein niedriges, enges Stadttor leitet uns aus dem Städtchen hinaus.
Aarberg - Ammerzwil - km 29
Am Verpflegungsstand schnappe ich mir einen Becher Cola und zwinge mich, einen kleinen Schluck zu trinken. Die Übelkeit weicht nur langsam und kurzfristig, ich fürchte Andi und Hugo zu sehr zu bremsen und möchte die beiden am liebsten auf den Weg schicken, ihr eigenes Rennen zu laufen. Andi besteht aber darauf, wie schon in den Trainingswochen zuvor ausgemacht, bei mir zu bleiben.
Ich bemühe mich Wasser zu trinken und meinen Körper wenigstens mit etwas Flüssigkeit zu versorgen. Mein Bauch möchte zu dieser späten Stunde aber lieber schlafen. Von den fünf Kilometern bis nach Lyss bleiben nur wenige Eindrücke hängen - der grosse Fledermaus-Schwarm, der im orangen Lichtschein einer Strassenlampe nach Insekten jagt oder das laute Froschkonzert beim Teich an der alten Aare. Dass der Vollmond nun vom klaren Himmel scheint und sein Silberlicht den Wald so intensiv durchflutet, dass man ohne Stirnlampe laufen könnte, entgeht mir zum Glück nicht. Wie hatte ich mich auf dieses Nachtlauferlebnis gefreut!
Wir kommen an der Verzinkerei vorbei, die offenbar nie ruht. Schichtarbeiter sind am Werk, und das Areal ist hell erleuchtet. Nach der Trennung von den Halbmarathonis hatten wir Einsamkeit erwartet, doch nun treffen wir immer häufiger auf Ultraläufer - mir scheint, dass wir wie im Traum an ihnen vorbeiziehen. Die meisten sind erstaunlich leichtfüssig trabend unterwegs, einige marschieren stramm und andere schleppen sich verschwitzt und schwerfällig voran.
Andi schwärmt später von der tollen Stimmung in Lyss. Ich kann mich weder an Musik, noch an das Publikum und die vielen Nachtschwärmer erinnern. Nur das Bild der Radbegleiter, die hier ihre Schützlinge erwarten ist noch präsent. Plötzlich schwenkt die Strecke nach links, und nach der Bahnunterführung erwartet uns die zweite, anspruchsvollere Hügelpassage.
Gleich zu Beginn ist die Steigung den Leuernweg hinan besonders knackig. Eine Familie kompensiert die Abwesenheit einer offiziellen Verpflegungsstelle in Lyss - abenteuerliche 8.5 Kilometer lang müsste man zwischen Aarberg und Ammerzwil ohne Treibstoff zurechtkommen! Viele greifen dankbar nach einem Becher Wasser.
Ich nehme auch einen kleinen Schluck und leere den Rest über den Kopf. Der Anstieg zwingt mich dennoch zu einer ersten Gehpause. Hugo's Bauchkrämpfe kommen weiterhin in Wellen. Sie scheinen ihn zurzeit etwas weniger zu hindern als mein Energiemangel mich bremst. Deshalb ermutige ich ihn noch einmal loszuziehen. Auf keinen Fall möchte ich ihn daran hindern, sein Minimalziel - eine sub 3:59 Stunden-Zeit zu erreichen. Bald ist er in der Dunkelheit verschwunden.
Andi bringt nichts aus der Ruhe. Weder die Wärme noch die späte Stunde beeindrucken ihn. Das häufige Reisen über mehrere Zeitzonen und das Hitzetraining in Dubai scheinen ihn abgehärtet zu haben.
Das steilste Stück marschierend zurückzulegen ist wie eine Erlösung. Ich höre die Grillen im hohen Gras zirpen, und bald können wir einen weiten Blick über das Seeland geniessen.
Diese Nacht ist ein Traum! Es scheint als ob Luna den Kopf zur Seite geneigt hätte und uns zulächeln würde. Unter dem Vollmond zu laufen ist noch schöner, als ich es mir vorgestellt hatte!
Die Strecke wird flacher, ich kann wieder traben und im Strom der Lichtpunkte-Kette mitfliessen, die sich nun oberhalb der Schrebergärten der dunklen Silhouette des "Dreihubelwaldes" zu wendet (Hubel ist der Mundartausdruck für Hügel) ...
Im Wald erwartet uns eine gespenstische Szene - helle Scheinwerfer, hektische Rufe, eilige Helfer! Zuerst vermute ich einen Notfall. Doch schnell geht mir ein Licht auf. Es handelt sich um die Überraschungs-Kontrolle. Die Läufer werden kanalisiert und jeder erhält einen Stempel auf die Startnummer gedrückt. Wir müssen kaum verlangsamen und können es auf der kurzen Abwärtsstrecke rollen lassen.
Schon erreichen wir das enge Tal bei Weingarten, und auf 350 Metern stellen sich uns abrupt 35 Höhenmeter entgegen. Wir wechseln in einen strammen Wanderschritt und treffen wieder den Läufer mit dem gelben Shirt. Gemeinsam überwinden wir den nächsten Graben und erreichen die Verpflegungsstelle beim Schulhaus von Ammerzwil, das uns mit Flutlicht erwartet.
Der reich mit Getränken, Brot, Früchten, Bouillon und Energieriegeln beladene Tisch scheint mir wie eine Oase in der Wüste, denn sie verspricht Rettung! Andi hatte mich angewiesen einen Becher Cola zu fassen und ihn ganz auszutrinken. Während er unsere Trinkflaschen auffüllt und mit Salz bestückt, gehe ich langsam weiter und nehme Schluck für Schluck. Und es ist wie ein Wunder! Der Magen nimmt die süsse Flüssigkeit an, und ich habe den Eindruck sofort zu spüren, wie sich nach 31 Kilometern praktisch ohne Energiezufuhr neue Kraft im ganzen Körper ausbreitet.
Ammerzwil - Oberramsern - 42.2 Kilometer
Mit neuem Schwung geht es leicht abfallend Grossaffoltern entgegen. Wir geniessen die zauberhafte und einmalige nächtliche Aussicht über die heimische Hügellandschaft, die einem Schwarz-Weiss-Gemälde gleich vor uns liegt. Wer hat schon Gelegenheit unter dem Vollmond praktisch vor der Haustüre einen Marathon zu laufen!?
Als wir uns an die Horste im Storchen-Dorf erinnern, sind wir schon daran vorbeigelaufen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob Adebars vom Läufer-Strom Notiz nehmen. Andrea und Röbi, die es sich in Faltsesseln bequem gemacht haben, um die Läufer anzufeuern, verpassen wir zum Glück nicht. Mittlerweile ist es Viertel nach eins, und wir dürfen in den Dörfern immer noch mit auf reichlich Zuschauerzuspruch zählen. Vor den Restaurants stehen Festbänke direkt an der Strasse. In einer Feuerschale brennt knisternd eine Finnenkerze und verströmt warmes Licht. Viel schneller als erwartet ist die letzte Hügelkuppe bei Vorimholz überwunden.
Jetzt breitet sich unser Nachbartal vor uns aus. Hier trainieren wir oft und gerne. 250 Mal heller als in einer sternenklaren Neumondnacht beleuchtet unser Trabant die Gegend - atemberaubend schön liegt sie da. Das hochgewachsene Gras wogt im sanften Nordwind, Grillen und Heuschrecken geben ein Nachtkonzert, Kühe ziehen grasend dem Waldrand entlang und das Mondlicht verwandelt unsere Nationaltiere in silberne Fabelgestalten aus einer Fantasy-Geschichte.
Anhand der Lichtpunkte, die am Südfuss des Bucheggbergs entlang wandern ist schon das ferne Ziel zu erahnen. Abwärts rollt es gut. Sobald aber ein kleiner Buckel in der Strecke auftaucht, spüre ich, dass mein Körper so lange ohne Energie hat auskommen müssen. Ideal wäre es, beim Marathon nach gut einer Stunde Laufzeit alle drei Kilometer 10-15 Gramm Kohlenhydrate zuzuführen um die eigenen Energiespeicher zu schonen und die Ermüdung hinauszuzögern. Nun sind wir schon länger als drei Stunden unterwegs, und es ist mir im besten Fall gelungen 15 Gramm Zucker oder 60 Kalorien zu ergänzen ...
Ich sehne den Verpflegungsposten bei Kilometer 35 in Scheunenberg nicht nur wegen der Aussicht auf einen weiteren Becher Cola herbei. Hier ist unsere Nachbarin Beatrice als Helferin im Einsatz.
Zuerst bin ich enttäuscht, da wir sie nicht entdecken können. Per Zufall ist sie dabei Erinnerungsfotos zu machen, und so wird auch unser Vorbeilaufen dokumentiert.
Einen ganzen Becher Cola kriege ich nicht mehr runter, die Hälfte wandert in meine Wasserflasche. Gestärkt geht es wieder hinaus in die Nacht. Noch sieben schnurgerade Kilometer, die sich wie Wellenreiten anfühlen werden - mehrmals fünf Höhenmeter hoch und wieder runter - ein stetiges Auf und Ab ...
Der Feldweg bei Janzenhaus ist weniger staubig als beim Nacht-Run vor einer Woche. Auffällig viele Ultraläufer sind ohne Stirnlampe unterwegs. Bieler-Lauftage-Schilder, an denen Leuchtstäbe oder Blinklämpchen hängen, weisen uns den Weg, und als Zwischenziel dienen zwei von Generatoren betriebene Scheinwerfer. Diese helfen den Zivildienst-Leistenden, den Übergang über die Bernstrasse zu sichern. Ein Post-Shuttlebus rollt durch die Nacht.
Es dämmert uns, die Füsse in die Hand zu nehmen. Eine 3:59er Zeit könnte möglich sein. Auf der Hauptstrasse nach Balm läuft es sich einfacher. Andi ist und bleibt ein wunderbarer und geduldiger Pace-Maker. Immerhin schaffe ich noch unser Longrun-Tempo! Kreuz und Muskulatur geht es prima. Lediglich die Energie-Leere und die leichte Übelkeit, die bei jedem noch so sanften Anstieg wieder auftaucht, machen mir das Leben schwer. Ich bin nicht die einzige, der es schlecht ist. Am Wegrand steht ein Läufer, der seinen Magen nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Balm, der nächste Weiler, will nicht näherkommen, zweieinhalb Kilometer können unendlich lang sein!
Am liebsten würde ich den Kopf in den Nacken legen und beim Laufen nicht aufhören, den Mond anzuhimmeln. Bald wird unser wohl speziellster Marathon zu Ende sein. Nun spüre ich aber wiederholt leichte Krämpfe in den Füssen und muss mich vorsichtig vorwärts tasten. Eine mächtige Linde ist der nächste Fixpunkt, dann geht es endlich durchs Dorf, das schnell durchquert ist.
Auf zur letzten Gerade - noch drei Bodenwellen! Staffelläufer fliegen auf ihrem Endspurt an uns vorbei, wir überholen viele 100-Kilometer-Läufer, deren Begleitradler meist stumm neben ihren Schützlingen durch die Nacht rollen. Kaum ein Gespräch stört die Ruhe. Auf der Strasse Oberramsern - Messen fahren Autos und offenbaren, wie weit es bis zum letzten Dorf noch ist. Die Dachfirste der Bauernhäuser zeichnen sich vor dem Nachthimmel ab, das Ortsschild reflektiert in der Ferne. Tickt die Uhr zu schnell? Ich gebe alles was noch möglich ist - werden wir es schaffen?
Wie in Zeitlupe kommen wir dem Zielbogen näher, der mit einer Leuchtschlange geschmückt ist. Das erlösende Piepen der Zeitmessmatte ertönt, und der Speaker verkündet, die vierte und fünfte Frau seien nun im Ziel (es sollte sich herausstellen, dass er sich verzählt hatte). In Jens hatte ich die einzige Konkurrentin überholt. Hab ich richtig gehört? Ein solch guter Overall-Rang mit einer Laufzeit von 3:59:27 !?! Wie im Traum nehme ich erleichtert und glücklich die Medaille in Empfang.
Wenig später kommt der grosse Läufer mit dem gelben Shirt an. Nach einem kurzen Schwatz will ich nur eins, mich hinsetzen und ausruhen. Schwindel und Übelkeit kommen nach dem Stehenbleiben in Wellen. Ich sinke vor dem Bauernhaus auf den mit runden Natursteinen gepflasterten Vorplatz und lehne mich an einen Strohballen.
Hugo sitzt auch schon dort. Er war sieben Minuten vor uns ins Ziel gekommen, und sein Bauch plagt ihn immer noch. Andi versorgt uns mit Cola. Im Slow-Motion-Modus befreie ich mich aus den nassen Laufsachen, ziehe das Lauftage-Shirt und eine warme Trainerhose an, so erwachen die Lebensgeister wieder. Da es hier dieses Jahr kein Festzelt gibt, spazieren wir nach einer halben Stunde zum Parkplatz.
Ohne Unterlass strömen Ultraläufer ins Dorf. Ihnen stehen noch unvorstellbare 62 Kilometer bevor! Im Gegensatz zum letzten Jahr möchte ich heute um keinen Preis mit ihnen tauschen! Wir sind uns einig, der Vollmond-Nacht-Marathon war ein aussergewöhnlich spezielles Erlebnis, aber auch hart. Die Distanz von 42.2 Kilometer wird mir Herausforderung genug bleiben! Dieser war mein 30. Marathon, und ich habe noch nicht ausgelernt ...
Das Auto-Thermometer zeigt auf der Heimfahrt immer noch 17 Grad an.
Andi hatte im Ziel bereits einen Regenerationsdrink getrunken. Um meinen Körper Baustoffe für die Erholung zur Verfügung zu stellen, löffle ich zuhause einen Becher Hüttenkäse, der mir zwar widersteht. Mit noch mehr Cola lässt er sich aber runterspülen.
Nach dem Duschen muss noch ein schneller Blick ins datasport-live App sein. Jeannine scheint auf ihrem 100-Kilometer-Lauf gut unterwegs zu sein! Und ich entdecke, dass ich mit dem knappen sub 4:00-Stunden-Resultat den 1. Rang in meiner Alterskategorie erreicht habe, was mich definitiv mit diesem anstrengenden Marathon versöhnt!
Gegen halb vier Uhr schlafe ich ein, und bereits zwei Stunden später wecken uns die gefiederten Sänger, welche die Morgendämmerung begrüssen. Wir haben Hunger und die spontane Idee, im nahen Büren an der Aare Rösti essen zu gehen und dort auf Jeannine zu warten, wird sogleich in die Tat umgesetzt.
Die Morgenstimmung an der Aare ist paradiesisch. Wir geniessen das stärkende Bauern-Frühstück an der Morgensonne und staunen, dass die meisten Ultraläufer knappe fünf Stunden nach unserem Zieleinlauf immer noch fähig sind, sich in flottem Trab fortzubewegen!
Doch wir warten vergeblich auf Jeannine. Ihr Mann und Rad-Coach trifft alleine in Büren ein, und wir sind sehr bestürzt, als er uns berichtet, sie habe schon früh Probleme bekommen, genug Energie zuzuführen, unter Übelkeit gelitten und nach gut 75 Kilometern das Rennen beenden müssen ...
Traurig und betroffen reisen wir nach Biel, wo noch Andis Auto steht. Zu gerne hätten wir Jeannine hier in ihrer Traumzeit einlaufen sehen!
Auf der Suche nach einem belebenden Kaffee, zieht es uns ins Festzelt, das halb leer ist, obwohl soeben die ersten drei der Schweizer Meisterschaft im 100-Kilometer-Lauf auf's Treppchen steigen dürfen. So kommt es, dass wir zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Die Zuschauer werden gebeten aufzustehen, die Nationalhymne wird gespielt, und mir kommen bei dieser feierlichen Szene fast die Tränen. 100 schnelle Kilometer in dieser fordernden und mystischen Vollmondnacht - welch eine Leistung!
Die Anstrengung und die ultrakurze Nachtruhe fordern am Nachmittag doch ihren Tribut, und unsere Tochter hält fest, wie wir warm eingekuschelt im Grünen in tiefem Schlaf liegen. Krämpfe in den Füssen und Händen wecken mich schliesslich und machen mir klar, dass unser Lauf kein Traum war - oder doch?
42.195 km / 3:59:27.4 Stunden / 5:40.5 Min./km / Puls ca. 154
+/- 305 hm / 21-17° schwülwarm, leichter NO-Wind
1. Halbmarathon 1:53:25 Stunden
2. Halbmarathon 2:06:02 Stunden
1. W45
6. von 36 Frauen
Andi - 7. von 20 M50 / 34. von 117 Herren
Track http://connect.garmin.com/activity/520081289
Hallo Marianne,
AntwortenLöschenerst einmal ganz herzliche Glückwünsche zum 1. Platz Deiner AK! Das ist doch ein sehr schöner Lohn für Deine Mühe! Ich hatte schon am Morgen in die Ergebnisliste geschaut und Eure Zeiten gesehen, die mir den Eindruck erweckten, es sei vielleicht nicht alles nach Plan gegangen... Und wie mir Hugos und Dein Bericht zeigen, hattet Ihr auch Eure Kämpfe auszufechten. Einerseits Deine schöne bildhafte Beschreibung des Laufens im silbrigen Vollmondlicht, dann aber dazu das Energieproblem. Statistisch gesehen wäre es dann ausgleichend, praktisch betrachtet denke ich aber machte es diesen Lauf sehr herausfordernd. Dennoch, zu widerstehen, im HM-Ziel zu enden und dennoch weiter auf Kurs zu bleiben, starke Leistung. Das Buure-z'Morge habt Ihr Euch verdient! Schade, dass es Deiner Kollegin nicht vergönnt war, die 100 km zu finishen, sicherlich hat sie fleißig dafür trainiert :-(
Mein mann stand übrigens in Lyss an der Strecke und meint, Euch gesehen zu haben, doch Ihr seid rasch in der Dunkelheit wieder verschwunden. Deine neue Frisur steht Dir prima! Und danke für den mitreißenden Bericht!
Nun gute Erholung von Euren Strapazen!
Ganz liebe Grüße
Elke
Hallo Elke
LöschenVielen Dank für die Blumen!
Beim Nacht-Marathon ähnlich schnell zu laufen, wie am Tag und auf flacher Strecke, das darf man wohl nicht erwarten - die Nacht hat ihre eigenen Gesetze, und wenn sie dazu noch so warm ist, haben diese offenbar umso stärkeren Einfluss. Auf jeden Fall hörte ich Geschichten von Versorgungs und Magen-Problemen von Läufern aller Distanzen. Für meine Kollegin war es besonders bitter, der 100er war eines der ganz grossen Saisonziele, und sie hatte seit Januar intensiv darauf hingearbeitet.
In Lyss war ich so mit meinem Innenleben beschäftigt, dass ich wie durch einen Tunnel gelaufen bin - schade, dass ich deinen Mann nicht gesehen habe!
Da die Kilometer diesmal nicht wie von selbst vergingen, sind die einmaligen Bilder der Vollmondnacht nun umso wertvoller. Die Mühe verblasst und die mystischen Eindrücke werden vor allem in Erinnerung bleiben ;-)
Das Buure-Zmorge hat prima gemundet und im schönen Büren an der warmen Morgensonne zu sitzen, war eine tolle Belohnung!
Ich flechte meine Haare sehr selten zu Zöpfchen ;-) sie sind aber äusserst praktisch, wenn man eine Stirnlampe tragen muss!
Danke für die guten Erholungswünsche, durch das gemässigte Tempo blieb der Muskelkater aus, und die Energiespeicher waren schnell wieder gefüllt :-)
Liebe Grüsse
Marianne
Herzliche Grautulationen zu deinem Lauf. Es ist einfach unglaublich, wie der Körper reagieren kann, wenn in den Ruhephasen Marathonleistungen abgerufen werden.
AntwortenLöschenEs Nachtmarathon kann nicht mit einem "normalen" Marathon vergleichen werden.
Grute Regeneration
Martin
Vielen Dank Martin
LöschenBisher bin ich drei Mal in der Nacht Marathon gelaufen, und jedes Mal spielte der Bauch nicht mit.
Beim Midnight-Sun Marathon in Tromsö war es nicht mal dunkel, der Magen streikte gegen Mitternacht trotzdem!
Letztes Jahr war ich am Nachtmarathon im Jogging-Tempo unterwegs, die Ernährung funktionierte dennoch nicht!
Ob man "talentiert" sein muss, um sich in der Nacht versorgen zu können, oder ob man dies trainieren könnte?
Ich weiss nicht, ob ich es ein viertes Mal versuchen werde ;-)
Doch ich möchte diesen Marathon nicht missen - die Gelegenheit einen solchen bei Vollmond zu laufen, ergibt sich wohl nicht so schnell wieder.
Danke für die guten Wünsche.
Viele Grüsse
Marianne