Sonntag, 15. September 2013

Jungfrau Marathon 2013

Die Behandlung beim Physio wirkt am Freitag Wunder. Die verspannte Muskulatur im Gesäss und unteren Rücken hatte sich auf die ganze Muskelkette bis zum Fuss ausgewirkt. Er trifft und löst genau die richtigen Punkte. Den Erfolg spüre ich schon beim Gang aus der Praxis! Beim ultrakurzen lockeren Lauf ist am Abend nur noch ein muskelkaterartiges Gefühl zu spüren.
Die Wetterprognose sagt mir zu (14° bei Start, 9° auf der Kleinen Scheidegg, leichter Nieselregen und  80 - 100 % Bewölkung). Eben noch glaubte ich, nicht zum Jungfrau Marathon starten zu können, und am Abend schreibe ich einen Plan mit Etappenzeiten. Das Erlebnislauf-Resultat vom letzten Jahr (5:15 Stunden) sollte ich bei diesen optimalen Wetterbedingungen schaffen können (Plan B). 
Ob es sogar für eine neue Bestzeit reichen könnte (sub 5:03:46) oder meine Traum-Zeit von 4:59:59 (Plan A)?


Um halb sieben Uhr treffen wir Hugo im Bahnhof Bern und stärken uns auf der Zugreise nach Interlaken mit Kaffee.
"Das Zelt" auf der Höhenmatte in Interlaken ist ganz in Läuferhand. Es ist herrlich in diese bunte nach Dul-X duftende (Berg-)Läufer-Welt einzutauchen! Wir zahlen die Ummeldegebühr für unsere vor wenigen Wochen spontan erworbenen Startnummern. Darauf haben wir viel Zeit zum Umziehen. Die meisten Mitläufer haben warme Tenues gewählt. Da die Sonne schon hinter den sehr dünnen Schäfchen- und Schleierwolken hervor guckt, wagen wir ins kurzärmlige bis ärmellose Outfit zu schlüpfen. Statt der Kamera stecke ich sicherheitshalber Ärmlinge und Stirnband ins Trinkgurt-Täschchen.

Um halb neun Uhr muss das Gepäck abgegeben sein. Für ein "Vorher-Bild" reicht es noch. Hinter dem "Zelt" grüsst die verschneite Jungfau unter dem milchig-weissen Morgenhimmel.



Heute möchte ich mich ganz auf's Laufen konzentrieren! Eine ausführliche Bildreportage von der Strecke gibt es im Blog-Bericht vom Jungfrau Marathon 2012 zu sehen.

Während die Alphornbläser ein Ständchen geben und die Fahnenschwinger in Aktion sind, jammern wir alle einander beim Einlaufen um die halbe Höhenmatte ein bisschen von unseren schweren Beinen vor. Wir können uns überhaupt nicht ausmalen, was dieser Tag bringen wird. 
Eines ist aber sicher - Andi ist zurzeit viel besser in Form als ich, und wir haben ausgemacht, dass heute besser jeder für sich läuft.

Start

Wir reihen uns in der Nähe des 5:00 Stunden-Pacemakers ins riesige Startfeld der über 4'000 Läufer. Die Spitzenathleten werden vorgestellt. Magnet der diesjährigen Austragung ist DER Schweizer Marathon-Läufer - Viktor Röthlin. Die Landeshymne ertönt, und mit ein paar ohrenbetäubenden, im Brustkasten vibrierenden Böllerschüssen werden wir auf die Strecke geschickt.
Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns in Bewegung setzen können. In leichtem Trab geht es über die rote Zeitmessmatte. Erst nach mehreren hundert Metern, auf denen wir tosenden Applaus geniessen können, kommt die Läuferflutwelle in besseren Fluss. In der ersten Kurve steht man einander doch auf die Füsse. Eine Frau stürzt und schlägt sich Knie und Hände auf - sofort hilft ihr jemand aufzustehen, und ein Raunen des Bedauerns geht durch das Feld. 

42.195 Kilometer, 1'829 Höhenmeter und ca. 5 Stunden Laufzeit erwarten uns. Eine nicht enden wollende Strecke könnte man meinen. Doch ich hatte noch nie das Gefühl, beim Jungfrau-Marathon besonders lange unterwegs zu sein. Bei diesem Wettkampf orientiere ich mich nicht an den Kilometern. Ich teile ihn in 7 Etappen ein. Und jede für sich ist sehr kurzweilig. 

1.Etappe
Interlaken - Wilderswil - 10 km

Der Applaus auf der Runde um die Höhematte und durch Interlaken ist berauschend. Freundin Jeannine winkt samt Familie vom Hotel-Balkon, Kuhglockengeläut treibt uns durch die Strassen, das Personal aus Restaurants und Geschäften steht Zuspruch spendend auf dem Gehsteig. Über die weiss bekittelte Gesellschaft vor der Apotheke muss ich jedes Jahr besonders schmunzeln.

In der Autobahnunterführung auf dem Weg nach Bönigen überwinden wir die ersten Höhenmeter. Die Sonne hat über die zarte Bewölkung gesiegt. Mir wird schon warm, und ich kippe an der ersten Verpflegungsstelle einen Becher Wasser über die Haare.
Es läuft fast zu gut. Hugo und Andi sind mir nach fünf Kilometern nur ein paar Schritte voraus. Bremsen, bremsen, BREMSEN erinnere ich mich ständig, denn ich bin auf den ersten flachen Kilometern schneller als die vorgenommenen 5:20 Min./km unterwegs. Im Gegensatz zu den beiden Inferno-Halbmarathon-Finishern habe ich doch nur zwei Berg-Trainings in den Beinen!

Ich verpasse einen Blick auf den türkisblauen Brienzersee zu werfen. Erst das alles durchdringende Glockengeläut der Trychlergruppe in Bönigen weckt mich aus der Konzentration auf Atmung und Beingefühl. Die Schmerzen die mich so lange geplagt hatten sind tatsächlich verschwunden. Zurückgeblieben ist nur eine leichte Muskelkater-Schwere. Ob die Kraft bis zu den letzten steilen Kilometer reichen wird?

Statt zuviel über's Laufen zu sinnieren, will ich das unterwegs Sein bewusst geniessen und da und dort ein paar Worte wechseln. Ich habe zu einem Läufer aufgeschlossen, dessen Shirt schon triefnass verschwitzt ist. Um seine Hüften schwingt im Takt der Schritte ein echter, blauer, wollener Schottenrock. Die Beine stecken in dazu passenden, dicken rohweissen Wollstrümpfen. Er erzählt, er trage seine Clan-Tracht heute mit Stolz, obwohl der hinten aufwendig gefaltete, knielange, karierte Wickelrock ganze 10 Kilogramm wiege! Jemand ist gar so kühn, zu fragen, was er denn unter dem Kilt trage! Es sei tatsächlich so, wie im Film "Braveheart" zu sehen, gibt er Preis...
Der Schotte ist nach wenigen Kilometern schon so vollkommen begeistert von diesem schönen Marathon, dass er sagt, er hätte einen längeren Aufenthalt in der Schweiz buchen sollen. Und uns versucht er im Gegenzug den "Loch Ness" Marathon schmackhaft zu machen.

So verfliegt die Zeit fast unbemerkt. Am Schiessstand vor Wilderswil sind die Schützen am Werk. Schwerer Schwarzpulverduft liegt in der Luft. Der Schatten nach der Brücke über die Lütschine ist willkommen, und schon leuchtet das gelbe 10 Kilometer-Schild bei der Verpflegungsstelle in Wilderswil. Eine Minute zu schnell - das war nichts mit meinem Bremsversuch.

52:35,2 Minuten - 71. AK Rang

2. Etappe 
Wilderswil - Gsteigwiler - Zweilütschinen 15 km

Ein dichtes Zuschauerspalier trägt uns mit viel Jubel, Lob und Applaus durch die Kopfsteinpflaster-Gasse in Wilderswil zur Holzbrücke, hinter der uns schräge Guggenmusik-Klänge entgegen schlagen. Am Fuss der Rampe nach Gsteigwiler hoch wünsche ich dem Schotten einen guten Lauf, lasse ihn ziehen und versuche etwas Tempo rauszunehmen.

Im eigenen Takt rollt es bergauf gar nicht schlecht. Bald umfängt mich Schwyzerörgli-Musik im malerisch mit Geranien geschmückten Dörflein. Ein paar Schritte geht's bergab, und am Dorfbrunnen schöpfe ich eine Hand voll Wasser für die heisse Stirn. Hätte ich doch den Sonnen-Schild angezogen! Das Licht ist schon so intensiv, dass der ewige Schnee am Silberhorn spiegelt wie Glas!
Die warmen Klänge einer Steelband helfen uns über die nächste Hügelkuppe. Jetzt folgt einer meiner liebsten Abschnitte des JMTs. Malerische Feldwege führen mit Aussicht auf den Fluss meist sanft abwärts zum Bahnhof von Zweilütschinen. Zum Glück kommt kein Zug, und wir können die Geleise ungehindert überqueren. Ich kann kaum glauben, wie gut ich unterwegs bin!

27:47,6 Minuten / 1:20:22,8 Stunden - 65. AK Rang

3. Etappe 
Zweilütschinen - Lauterbrunnen - 21.1 km

Über nasses Gras geht es ein Stück den Geleisen entlang zur nächsten Verpflegungsstelle. Ich fülle die Wasserflasche auf und genehmige mir bewusst früh einen ersten Schluck aus der Gel-Flasche. 
Der grobe Kiesweg entlang des sprudelnden, schäumenden und tosenden Wildwassers der weissen Lütschine liegt ganz im Schatten. Die Luft im engen Tal ist wunderbar kühl und feucht. Und ich bin froh, dass ich auch auf unebener Piste weiterhin schmerzfrei und effizient bergauf laufen kann!
Achtung Steinschlag warnt ein Schild am Fusse einer auffällig geschichteten, bröckeligen, Felswand. Der Weg wird noch etwas steiler. Er klebt kurz darauf von Geländern gesichert als schmaler Pfad nur knapp über dem eiskalten, brausenden Gletscherwasserfluss. Für einmal kommt es hier nicht zum Stau, bevor sich der Läuferstrom auf eine sonnenbeschienene Wiese hinaus ergiessen kann. Vor uns erhebt sich das zauberhaft schöne Silberhorn. Ach, ich bin so glücklich, dass ich dazu gehöre zur bunten Läuferkette, die sich das Tal hinan windet. 

Wie jedes Jahr laufe ich mit mulmigem Gefühl über die Holzplanken der Lochbrücke. Sie schwankt und schwingt unter den vielen Läuferfüssen abenteuerlich, während in der Tiefe die Lütschine rauscht. Der Weg verläuft immer höher an deren Ufer. Über zwei weitere Brücken und eine steile Rampe verlassen wir das tief eingekerbte Flusstal und erreichen Lauterbrunnen.

Ein blauer Teppich erwartet uns, und der Jubel der mehrreihig und dicht gedrängt stehenden Zuschauer saugt uns förmlich das Dorf hinan. Flaggen wehen über unseren Köpfen, Glocken und Trycheln läuten und dröhnen so laut, dass mein Herz zu zittern scheint. Der Speaker verkündet, dass Vik irgendwo hoch über Wengen auf dem 3. Platz unterwegs sei.

Der Staubbachfall nieselt sanft und unaufhörlich über die hohe Felswand auf der rechten Talseite. Abwärts geht es der nächsten Erfrischungsstelle entgegen. Ich versuche möglichst ungebremst zwischen all den stehen bleibenden Läufern hindurch zu kommen und schnappe mir einen nassen Schwamm.

Erfrischt eile ich der Halbmarathon-Marke entgegen.
Sechs Minuten früher passiere ich sie als vor einem Jahr - 
vier Minuten eher als bei meinem schnellsten JMT 
haargenau so schnell, wie ein Jahr darauf, als ich vergeblich versuchte, jene Zeit zu unterbieten... 
Das richtige Gleichgewicht zwischen dem ersten und zweiten Halbmarathon ist beim JMT ein heiss diskutiertes Thema. Wie viel "Gas" darf man unten geben, damit für den höhenmeterreichen zweiten Teil noch genügend Kraft übrig bleibt? 
Eigentlich hätte ich heute zwei Minuten langsamer laufen wollen... 
Wie wird dieses Abenteuer wohl enden?

36:53,5 Min. / 1:57:16,3 Stunden - 52. AK Rang

4. Etappe
Halbmarathon-Marke - Lauterbrunnen Ey - 25.6 km

Die Schlaufe durch's Lauterbrunnental ist bis auf einen Buckel nach dem Halbmarathon flach. Steelband Klänge schicken uns nach der Überquerung des Trümmelbaches gar flussabwärts. 
Ein soeben gelandeter Base-Jumper rafft seinen Schirm zusammen, und der Applaus der ganzen Belegschaft der Heli-Basis von Air Glaciers ist sehr motivierend. Ich lasse es ungebremst rollen, so gut das mit schon etwas müden Beinen noch geht. Die Kilometerzeiten schrumpfen noch einmal. 
Dann muss der Läufer-Tausendfüssler auf dem steinigen Weg entlang der Lütschine Platz finden, und unser Übermut wird wieder gebremst.

In Ey habe ich keine Zeit für Zwischenzeit-Berechnungen. Die bevorstehende "Wand" hat bereits mein ganzes Denken eingenommen. Ich krame Salztabletten hervor und fülle den Wasservorrat auf, um für die "Kletterpartie" nach Wengen gerüstet zu sein. Obwohl ich Respekt habe vor dem harten Strecken-Brocken mit knapp 500 Höhenmetern, freue ich mich auf die "Gehpause".

24:01,1 Min. / 2:21:16,4 Stunden - 47. AK Rang

5. Etappe
Ey - Wengen - 30.2 km

Kaum jemand rennt mehr auf den steilen Serpentinen die "Wengener-Wand" hoch. Mein Puls klettert über 160, und ich schreibe dies der Wärme zu. Eigentlich habe ich das Gefühl gut voranzukommen und verfüge noch über genug Luft mit einem Paar aus Schweden zu plaudern. Sie finden unsere Berge seien wahnsinnig steil... Ja, das Lauterbrunnental liegt wirklich schon sehr bald weit unter uns.
Die Streckenmarkierungen folgen in 250 Meter-Abschnitten. Die nächste Zwischenzeit bei km 27 gibt mir mächtig zu denken: 17:34 Min. - so lange hatte ich für den ersten "Wand-Kilometer" noch gar nie! Ist das möglich, oder habe ich ein Schild verpasst? Da und dort kann ich doch noch überholen, meist nehme ich mit grossen Schritten die steilen Innenkurven?! Nein, ich glaube der Uhr nicht!
Das Haus, bei dem jedes Jahr  "the wall" aus Lautsprechern dröhnt wird renoviert. Schade, dass die vertrauten Klänge fehlen! Wenige Serpentinen später wird der Weg flacher. Die Umstellung vom strammen Bergaufgehen zum Laufen ist nicht einfach. Meine Jogging-Schritte fühlen sich eckig an. Da und dort schiesst jemandem ein Krampf in die Waden, und das Ausweichen ist auf dem schmalen Pfad nach Ausserwengen schwierig. An der nächsten Verpflegungsstelle geht es chaotisch zu. Gierig werden die bereitstehenden Becher anvisiert. Jemand läuft mir quer vor die Füsse, der Zusammenstoss ist unvermeidlich.

Das letzte Wegstück nach Wengen hoch ist wieder breiter und asphaltiert. Der erste grosse Knackpunkt dieses Bergmarathons ist überwunden. Der fantastische Tiefblick ins Lauterbrunnental macht uns unsere gewaltige Leistung deutlich. Die Läuferschlange entspannt und entwirrt sich glücklicherweise wieder.
Jetzt geht's definitiv direkt dem gigantischen Jungfrau-Massiv entgegen. Ein Fahnenschwinger wirbelt jodelnd eine riesige Berner-Fahne durch die Luft, die Kirchenglocken läuten - welche Berg-Idylle! Es ist genau Mittag.

Kaum eine Minute später geht es auf der Hauptstrasse abwärts in die tosende, beflügelnde Stadt-Marathon-Feststimmung von Wengen hinein.
Applaus, persönlicher Zuspruch und Rätschen-Gerassel jagen mir einen Schauer über den Rücken. Als ich die Zwischenzeit-Messmatte überquere bin ich sehr erstaunt, dass ich meinem kühnsten Plan immer noch hauchdünn voraus bin (winzige 2 Sekunden). Aber es warten noch 12 Kilometer mit 1'000 Höhenmetern!

45:31,5 Min. / 3:06:47,9 Stunden - 44. AK Rang

6. Etappe 
Wengen - Allmend - Wengeralp-Wixi - 37.9 km

Die steile Rampe zum Hotel Regina hoch bietet einen Vorgeschmack auf die noch folgenden "Kletter-Partien". Dankbar nehme ich bei der Englischen Kirche (km 31) einen ersten Schluck Cola aus der Flasche, die unser Bekannter Felix mir entgegen streckt. Einigermassen locker schaffe ich die Runde durch Wengen, zum Schwimmbad hoch und wieder abwärts unter der Brücke der Wengerneralp-Bahn hindurch. 


Dann ist für mich definitiv Marschieren angesagt. Am super ausgestatteten Verpflegungsstand greife ich wieder zu Cola, welches ich mit dem mitgetragenen Salzwasser runter spüle. 
Der eineinhalb Kilometer lange stetig steil ansteigende Weg zur Haltestelle Allmend zehrt an den Reserven. Mir scheint dieser Abschnitt einer der anspruchsvollsten zu sein! 

Umso mehr freue ich mich, hier bekannte Gesichter zu sehen! Jeannines Tochter steht mit einer Schweizerflagge am Wegrand, und von Jeannine und Patrick bekomme ich einen kurzen Renn-Rapport.


Es ist beruhigend zu wissen, dass es Andi super zu laufen scheint. Er sei schon vor einiger Zeit vorbeigekommen - wohl etwa vor 10 Minuten. Sie meinen, auch ich sei gut unterwegs, es sehe entspannt aus. Das motiviert. 

Gleich sei es halb eins, werde ich informiert. Ui, um 12:31 hätte ich eigentlich die Allmend erreichen wollen!

Am Übergang zur welligen Strecke nach Wengernalp zeigt die Uhr 12:33:24 an...
Jetzt scheint es hart zu werden! 
Es ist ja durchaus abenteuerlich, nach nur drei Wochen durchzogener Marathon-Vorbereitung und zwei Bergtrainings davon zu träumen, eine neue JMT-Bestzeit zu laufen, nur weil das Wetter heute ähnlich kühl ist wie damals vor 5 Jahren!

Eigentlich liegen mir die welligen Kilometer bis zur Wengernalp und der stetige Wechsel zwischen Gehen und Joggen. Und doch schaffe ich es diesmal kaum aus dem zügigen Bergwander-Trott auszubrechen. Die Muskeln sind nach 33, 34 Kilometern wirklich schon sehr müde. 

Es ist jedoch vor allem der Magen, der mich vom Laufen abhält. Mittlerweile schwappt darin eine sehr exotische Mischung aus Gels mit Kokos-Geschmack, Bouillon, Cola und Salzwasser. Sobald ich ein paar Schritte laufe, macht mir der Bauch mit einem Anflug von Übelkeit deutlich, dass er nicht zu sehr geschüttelt werden wolle.

Solange ich gehe, geht es mir prima. Ich gebe mein Bestes, aber quälen will ich mich nicht bei diesem Lauf, der ursprünglich als Erlebnis-Lauf geplant war. Die Bergwelt ist zu schön, um verbissen kämpfend, mühsam vornübergebeugt auf die staubigen Schuhe zu starren. Ich will es nicht verpassen, die Blumen am Wegrand zu bemerken, die rosa Weidenröschen und den tiefblauvioletten Eisenhut zum Beispiel.

Bei der Mettlenalp greife ich noch einmal zu Cola und trinke Schluck für Schluck, während wir aus dem Wald hinaus treten und sich das immer wieder Gänsehaut verursachende, überwältigend Panoramabild der gigantischen Eisriesen vor uns ausbreitet.


Es geht mir wieder besser. Wie bunte Ameisen sieht man die Läufer am Fusse der Loucherflue den Grashang zur Moräne hochkrabbeln. Ich bin jetzt ganz sicher, dass ich das auch schaffen werde. Auf den restlichen zwei Kilometern bis zur Wengernalp kann ich wieder öfters ein paar hundert Meter traben. Doch auf Plan A habe ich nun sieben Minuten eingebüsst.

1:12:39,2 Min. / 4:19:27,1 Stunden - 45. AK Rang

7. Etappe
Wixi - Ende Moräne - Loucherflue - Ziel 

Erstaunlich gut und schnell tragen mich meine Füsse hinunter zur Talstation der Sesselbahn Wixi. Die Originalroute ist zurzeit gesperrt. Mit einem Becher Bouillon in der Hand nehme ich die alternative Entlastungsstrecke in Angriff. Nach den niederschlagsreichen Tagen ist sie etwas matschig und duftet zünftig nach Kuhfladen. 

Ich treffe auf einen sehr erfahrenen Läufer - keinen einzigen Jungfrau-Marathon hat er je ausgelassen! Da ist es natürlich interessant zu diskutieren, welche Route nun wirklich die Schönere und Schnellere sei. Die Originalroute gefalle ihm wie mir besser. Zielzeiten würden allerdings mit jedem Jahr unwichtiger, und die Bestzeit sei sowieso längst unerreichbar geworden. Wen würde schon interessieren, ob er heute seinen 10. oder 20-besten JMT laufe. Dabei sein und ankommen sei das Ziel beim JMT. Weise Worte!

Plötzlich kracht es über den Bergen. Ist ein Jet im Anflug? Nein, wir werden Zeugen eines eindrücklichen Naturschauspiels. Am Eigergletscher muss ein grosses Stück Gletschereis abgebrochen sein. Es donnert und rumpelt gewaltig. Das Eis zerbirst wie Glas und rieselt mit einem feinen Säuseln minutenlang wie ein Wasserfall aus feinstem Kristallzucker die Felswand hinuter.


Bald sind die letzten felsigen Stufen auf die Haaregg überwunden. 
Die Alphornbläser setzen zu einem neuen Konzert an, Schweizerfahnen wirbeln knatternd durch die Luft. Die beiden Läuferströme kommen am Fuss der Loucherflue wieder zusammen, und das Einfädeln auf den engen Grasweg zur Moräne verläuft ohne Stau. 

Der Rhythmus des Gänsemarsches entspricht mir heute genau (ganz anders als bei früheren Teilnahmen) ich kann einfach mitfliessen und auch hohe Steinstufen noch gut bewältigen. 
Die Kraft reicht aus, die Muskeln bleiben vor Krämpfen verschont, schon ist der Dudelsackspieler am Ende der Moräne zu hören. Die Zuschauer, Helfer und Fotografen feiern uns als ob wir schon am Ziel wären.

Der kurze Weg zur Loucherflue, dem höchsten Punkt der Strecke, führt zuerst ein paar Meter abwärts von der Moräne hinunter, die es sachte zu bewältigen gilt. 
Dann versuche ich noch einmal Gas zu geben, weil ich bemerke, dass ich die Moräne viel besser bewältigt habe, als erwartet! Die Uhr zeigt noch keine 5 Stunden an. Für eine Bestzeit reicht es nicht mehr - aber mit Nr. 2 könnte es klappen.

Da entdecke ich Regula und ihren Mann im Gras sitzen. Ihr begeistertes Winken und Zujubeln verleit mir Flügel. Schon erreiche ich den "Schoggi-Tisch-Felsen" auf der Loucherflue. Auch hier gratulieren uns die freundlichen Helfer bereits persönlich. Gerne greife ich zum Überwinden der Felsen-Treppenstufen rechts und links je eine helfende Hand.


Dann hält mich nichts mehr. Dass es abwärts dem Ziel entgegen noch so flüssig rollt, ist eine schöne Überraschung. 
Der Weg liegt schräg am Hang und ist zum Teil recht steinig. Doch sogar vom Fuss, der letzte Woche noch geschwollen war, ist überhaupt nichts zu spüren! Nach der letzten Kurve sind all diese Gedanken vergessen.


Ein immer enger werdendes Zuschauerspalier empfängt uns. Der Zielbogen ist schon so nah. Ich setzte zum Endspurt an, und es fühlt sich an wie fliegen! 
100%iges Glück!




47:48,7 Min. / 5:07:25.8 Stunden - 42. AK Rang

Ich kann es kaum glauben! 
Ich hab's wirklich geschafft! 5:07:25.8 - mein 2. bestes Jungfrau-Marathon-Resultat. So ein toller Lauf nach den Turublenzen der letzten Wochen!!!
Doch - es ist wahr! Um meinen Hals baumelt die Medaille! 

Noch nie habe ich mich im Ziel so gut gefühlt. Kein Anflug von Schwindel, flauem Gefühl im Magen oder Kopfweh. 


Am Bier-Stand frage ich nach, wie es Viktor Röthlin ergangen sei. Toll, dass es ihm tatsächlich aufs Podest gereicht hat!

Das alkoholfreie Getränk erfrischt herrlich auf dem Weg zur Gepäckaufbewahrung, und ich fühle mich bald wie wenn nichts gewesen wäre. 
Der einzige Wermutstropfen ist, dass ich vorerst mit mir alleine feiern muss. Wo stecken Andi und Hugo? Wie ist es ihnen wohl ergangen?

Andi kommt mir schon umgezogen von der Dusche entgegen. Ob er eine neue Bestzeit gelaufen sei, muss ich gar nicht fragen - das sieht man ihm an - so sehr strahlt er - 4:41:58,4 - unglaublich!
Es hätte sich einfach so ergeben, fast "mühelos" hätten sich die pro Abschnitt gewonnen Minuten summiert. Die geplanten 4:59 Stunden hat er um ganze 17 Minuten und damit die alte Bestmarke um 4:19 Min. unterboten!



Hugo hat die anvisierten 4:59 ebenfalls erreicht. So gibt es viele Gründe zum Feiern. 

Wir verweilen gemütlich "Jungfrau-Marathon-Garn" spinnend beim Tipi. Ich stille meinen Bärenhunger mit Rösti, den Männern ist mehr nach Kaffee und Apfel-Kuchen.


Die zweistündige Rückfahrt mit dem Zug scheint wie immer unendlich und macht dadurch die vollbrachte Leistung überdeutlich. Es ist eindrücklich, die gelaufene Strecke von hinten aufzurollen und vielen schönen Passagen noch einmal zu begegnen.

Bis wir um halb acht Uhr wieder in Bern ankommen, haben wir genug Zeit, uns bereits auf das nächste gemeinsame Marathon-Abenteuer einzustimmen.   


Jungfrau Marathon
5:07:25.8 Stunden / 7:17,1 Mi./km / Puls 153
+ 1829 hm / 14° schön, Schleierwolken
42. von 188 W45
241. von 950 Frauen

Track http://connect.garmin.com/activity/375654649

Freitag 
4.1 km lockerer Lauf 5:33 Min./km / Puls 122
+/- 40 hm / 18° leicht bedeckt 
Track http://connect.garmin.com/activity/375021409

10 Kommentare:

  1. Herzlichen Glückwunsch zu dem tolle Resultat und er spitzen Zeit!
    Dein Bericht ist auch echt toll und mitreißend geschrieben. Irgendwann in den nächsten Jahren möchte ich auch dort oben im Ziel ankommen!

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    1. Vielen Dank Markus!
      Es freut mich, dass ich dich mit meinem Bericht für den Jungfrau-Marathon begeistern konnte. Er ist wirklich eindrücklich und "atemberaubend" schön!
      Nach der ultrakurzen Vorbereitung bin ich tatsächlich sehr glücklich über mein Resultat. Laut den Zeiten, welche ich bei flachen Marathons erreiche, müsste ich den JMT aber einiges schneller zurücklegen können... Aber aus mir wird wohl nie eine Gemse ;-)
      Liebe Grüsse
      Marianne

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  2. Gratulation zu deinem tollen Lauf. Das Wetter hat ja auch noch gut mitgemacht. Und den Hugo hast du auch fast eingeholt...

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    1. Danke Chris
      Ja, das war ein Tag, an dem alles stimmte!
      Mehr als ein paar Schleierwolken als Sonnenschutz darf man sich bei diesem Lauf ja der Aussicht wegen nicht wünschen ;-)
      Gruss Marianne

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  3. Hallo Marianne,
    auch von mir ganz herzliche Glückwünsche! Ich habe ganz gespannt auf Deinen Bericht gewartet. Er liest sich wieder richtig mitreißend. Aber ich glaube, er liest sich leichter, als es in Wahrheit ist, diese Strecke zu laufen! Ich wünsche Dir, dass es gesundheitlich nun auch gut bleibt und Du Dich mit voller KRaft auf die nächsten Ziele konzentrieren kannst!
    Liebe Grüße
    Elke

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    1. Hallo Elke
      Danke für die Glückwünsche und die guten Wünsche!
      Ich hab mir Mühe gegeben, schnell zu schreiben. Bis die Bilder und Emotionen nach so einem Erlebnis geordnet sind, dauert es bei mir immer eine Weile ;-)
      Ob es anspruchsvoller ist, einen flachen Marathon oder den Jungfrau-Marathon zu laufen, wird viel diskutiert. Viele wählen ihn sogar als ersten Marathon, da er oft als "25 km Lauf + Bergwanderung" dargestellt wird ;-)
      Liebe Grüsse
      Marianne

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  4. Heya, Marianne, was für ein spannender, schöner, erlebnisreicher Lauf, super gemacht, dein Ziel erreicht - voll zufrieden, was man auf den Fotos sehr genau erkennen kann - es hat sich alles für dich gelohnt - herzlichen Glückwunsch von der sonnigen Ostsee !

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    1. Hej Margitta
      Danke für die Blumen - ich freue mich, wenn ich dir ein Stückchen der Faszination, die dieser Berglauf ausstrahlt an die Ostsee schicken konnte!
      Ja, laufen macht mich einfach glücklich - Marathon laufen ganz besonders - aber was erzähle ich dir da ;-)
      Liebe Grüsse aus der heute herbstlich verregneten Schweiz
      Marianne

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  5. Erst mal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem erfolgreichen Lauf! Solche Leistungen beeindrucken mich sehr. Deshalb schreibe ich auch meine Abschlussarbeit über Leistungen in der Höhe. Wären sie bereit dazu mir einige Fragen bezüglich Vorbereitungstraining, Höhenanpassung und der Lauf selber zu beantworten?
    Liebe Grüsse
    Andrea Schellenberg

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    1. Danke Frau Schellenberg.
      Wenn sie mir ihre Kontakt-Angaben schicken, bin ich gerne bereit, ihnen ein paar Fragen zu beantworten.
      Viele Grüsse
      Marianne Niemack

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