Freitag, 1. Juni 2012

Edinburgh Marathon 27. Mai 2012


Esther, Peter, Andi, ich, Hugo
Seit acht Jahren unternehmen wir jährlich mit Freunden eine Marathonreise ins Ausland. Neu ausgerüstet mit Laufjacken (run4fun- swiss running team) ging‘s diesmal nach Edinburgh. Wir erlebten unvergesslich schöne Tage in der Hauptstadt Schottlands. Das Wetter präsentierte sich total unschottisch. Die nordische Sommersonne schien vom wolkenlosen Himmel, verzauberte die sonst so graue Stadt und liess die Farben bunt und grell erschienen. Die Einheimischen schwirrten in Träger-Shirts, Shorts, kurzen Röckchen und Flipflops durch die Strassen, jeder Park wurde zur Liegewiese, und das Leben pulsierte, wie in einem Mittelmeer-Ferienort! Perfekte Verhältnisse fürs Sightseeing. Doch so hoch im Norden hätten wir keinen Hitze-Marathon erwartet…

Am Sonntag machten wir uns ohne Überkleider zum Start auf. Um neun Uhr war es bereits 15 Grad warm und wolkenlos sonnig. Hochsommer-Runningoutfit-Wetter!
Die Grösse des Edinburgh Marathons erstaunte uns. Auf der London und Regent Road machten sich über 11'000 Läufer für den Start bereit. Nach kurzem Einlaufen wünschten wir einander Glück. Esther und Peter planten einen Plausch-Halbmarathon zu laufen, und Andi, Hugo und ich, stellten uns etwas weiter vorne ins Feld der Marathonis. Es herrschte überhaupt kein Gedränge. Die Briten sind tatsächlich Meister im Anstehen!

Bis zum Start dauerte es fünf Minuten länger als geplant. Trotz unseren ambitionierten Plänen blieb mein Puls ganz ruhig. Andi und ich strebten beide neue Bestzeiten an. Andi hoffte, unter 3 Stunden und 15 Minuten ins Ziel zu kommen. Auf dem Pace-Band an meinem Handgelenk stand der Marschplan für eine Zeit zwischen 3:22:30 und 3:18:55 (4:48 - 4:43 Min/km). Und ich fragte mich, ob es trotz der Wärme DER Marathon Tag werden könnte?

Überraschend verkündete der Speaker: „30 Sekunden bis zum Start!“  Schon ertönte der Startschuss, und kurz nach 9:55 Uhr liefen wir über die Startlinie. Auf den ersten paar hundert Metern floss der Läuferstrom träge auf der London Road dahin. Dann führte die Strecke leicht abwärts zum ultramodernen Parlamentsgebäude und dem Holyrood Palace, in dem die Queen bei ihren Besuchen in Edinburgh residiert.

Ich fragte mich, ob ich zu schnell losgelaufen war. Die Garmin zeigte bereits 4:45 Min./km an, und Andi, der doch wesentlich schneller laufen wollte als ich, war immer noch nur wenige Meter vor mir zu sehen!? Mein Tachometer – die Pulsuhr – gab mit Werten um 140 jedoch grünes Licht!

Ich liess es rollen und versuchte, möglichst viele Eindrücke von der Strecke zu sammeln. Hügelauf und hügelab ging es von der Innenstadt zum Holyrood Park am Fusse des eindrücklichen Vulkanhügels Arthurs Seat, an dessen Hängen der Ginster gelb blühte. Während wir an einem kleinen Loch (schottisch = See) und am Stadion vorbeiliefen, hatte ich Andi längst aus den Augen verloren. Das Aufwärts-Rennen fühlte sich etwas mühsam an, doch ich liess mich nicht beirren, sondern  von der Pulsuhr leiten. Schliesslich konnten wir abwärts, entlang von grossen Parks der Hafenstadt Leith entgegen laufen. Ich freute mich darauf, ans Meer zu gelangen und fragte mich, wie stark uns der angesagte Gegenwind tatsächlich fordern würde.


Nach neun Kilometern wurde die Strecke endlich flach. Wir bogen auf die Promenade von Portobello ein und liefen mehrere Kilometer direkt am Meer. Der Gegenwind war weniger stark als erwartet und bremste uns kaum. Im Gegenteil, ich war froh um das bisschen Kühlung, das er bot. Die Sonne brannte schon sehr intensiv auf uns nieder, und am Strand genossen viele Menschen den strahlend schönen Sommertag.  


Die 10 Kilometer-Marke folgte – 47:06 – vier Sekunden schneller als für mein ambitioniertes Traumziel nötig gewesen wäre. Die Pulsuhr lieferte weiterhin erfreulich tiefe Werte. Ich war optimistisch, dass ich mein Ziel würde erreichen können. Und die Strategie schien einfach. Ich nahm mir vor, das Rennen weiterzulaufen, als ob ich mit Tempomat unterwegs wäre. Doch ein kleines bisschen beunruhigte mich die hintere Oberschenkelmuskulatur, die sich nicht ganz locker anfühlte…


Mit wacheren Sinnen als beim letzten Marathon konnte ich die schöne Umgebung geniessen und die vielfältigen Aufschriften auf den Shirts meiner Mitläufer studieren. Viele waren Spenden sammelnd unterwegs und liefen zum Beispiel für die Krebsforschung, herzkranke Kinder oder für die Ausbildung von Blindenhunden. Der Applaus des Publikums war ihnen sicher, genauso wie dem Schotten, der im echten, wollenen, schweren Kilt unterwegs war.


Die Landschaft um Edinburgh war durchwegs sehenswert und eindrücklich. Wir liefen durch gepflegte Städtchen mit typischen Reihenhäusern und kleinen Vorgärten. Und ab und zu war der Blick frei auf die Küste und das markante Kohlekraftwerk, das knapp die Hälfte der Strecke markierte. Es wurde nie langweilig. Aber immer wärmer. Offiziell bis 23 Grad im Schatten. An windstillen Ecken schien es eher gegen 30 Grad heiss zu sein! Und die Herzfrequenz kletterte nun schneller, als mir lieb war.

Nach 1:39:33 lag auf dem Weg zum kleinen Hafen von Port Seaton eine unscheinbare Zeitmessmatte. Kein bunter, aufgeblasener Bogen, kein Publikum, nur ein schwaches „Piep“... vorbei war der erste HALBMARATHON. Ein kurzer Blick auf‘s Paceband liess mich diesen Moment doch etwas feiern (1:39:31 bis 1:41:16 hatte ich geplant, bis hierhin zu laufen). Und ich hoffte, dass ich die Geschwindigkeit trotz nun etwas zu hohem Puls noch einmal 21 Kilometer würde durchhalten können.

Nun ging’s durch weniger besiedelte Gegenden. Es folgten Golf- und Campingplätze und der Fernyness Wood Wald, den man sich eher als dichtes Gebüsch vorstellen muss. Wir fanden hier zwar ab und zu etwas Schatten. Doch es war windstill und sehr warm. Die Strecke verlief nun in sanften Wellen, die aber kaum mehr als fünf Höhenmeter pro Kilometer aufwiesen.

Das Feedback, welches die Garmin lieferte, erstaunte und erfreute mich zugleich: 4:46 / 4:42 / 4:44 / 4:44 / 4:44 / 4:45 / 4:46 / 4:45 Min./km. Es rollte einfach genial gut! Und es war mir gelungen, den Tempomat einzustellen, obwohl sich meine Beine nicht mehr ganz frisch anfühlten.


Die Strategie, mit der Wärme zurechtzukommen, schien aufzugehen und die gewählte Pace die Richtige zu sein. Ich begoss mich bei jeder Verpflegungsstelle grosszügig von oben bis unten mit Wasser und achtete darauf genug zu trinken. Etwa alle fünf Kilometer wurden wir versorgt. Typisch schottisch sparsam gab es bis Meile 16 (ca. 26 Kilometer) nur Wasser. Ab Kilometer 15 nahm ich etwa alle 20 Minuten einen Schluck verdünntes Winforce-Gel, das ich bei mir trug. Damit das süsse Zeug besser rutschte, lutschte ich dazu eine Salztablette. Das half mir auch dabei genug zu trinken. Ich blieb von Krämpfen verschont, und der Magen verhielt sich ruhig.

Ein paar Kilometer vor dem Wendepunkt hatte die Natur ein ganz besonderes Schauspiel für uns bereit. Trotz strahlendem Sonnenschein lag eine mystische Nebelbank über der Bucht des breiten Fjordes Firth of Forth und hüllte Meer und Horizont teilweise ein. Ein Anblick, welcher einen Moment ablenkte und sehr beruhigend wirkte.


Wir erreichten den Landsitz von Gosford House, auf dessen Grundstück sich der Wendepunkt (Meile 18 = Kilometer 29) befand. Durch ein grosses Steintor bogen wir auf einen Weg mit grobem Kies ab. Das Laufen wurde sofort mühsamer, obwohl wir zuerst durch ein schattiges Wäldchen geführt wurden. Darauf verlief der Kurs entlang von Gewächshäusern und Stallungen. Das Herrenhaus nahm ich nur kurz aus dem Augenwinkel heraus wahr. Zu sehr war ich mit dem schlechten Laufgefühl beschäftigt. Und es wurde immer heisser. Ich wünschte mir nichts mehr, als möglichst bald zurück auf die Landstrasse und vernünftigen Untergrund zu kommen. Und ich war enttäuscht, dass der Wind, der uns bisher entgegengeblasen hatte, sich immer noch als Gegenwind anfühlte. Er schien gedreht zu haben!


Ich ermahnte mich zu positivem Denken. Immerhin waren 30 Kilometer bewältigt, als wir aus dem Tor des Landsitzes herausliefen. Und auf der Strasse rollte es wieder wie gewohnt. Ich schaute kaum mehr auf die Uhr und beachtete das Paceband auch nicht mehr. Der Puls schien nicht mehr zu steigen, und ich  konnte meinem Gefühl vertrauen. Denn die Garmin bestätigte ab dem 31. Kilometer unglaublich regelmässige Zwischenzeiten - 4:45 / 4:45 / 4:45 / 4:45 / 4:45 / 4:47 / 4:45 Min./km!!! Da wurde mir bewusst, dass ich sehr wahrscheinlich zu einer ganz genialen neuen PB unterwegs war!

Trotzdem brauchte es immer grösseren Willen dran zu bleiben und die Pace zu halten. Mit 165 Schlägen/Min. war der Puls zwar noch recht tief, trotz der Wärme. Aber plötzlich begann die zweite Zehe am linken Fuss extrem zu schmerzen. Das konnte nicht nur eine Falte in der Socke sein!? Ich versuchte den Fuss in einem anderen Winkel aufzusetzen. Doch es dauerte mehrere Kilometer, bis der Schmerz etwas nachliess. Zudem schien die vom Hinweg bekannte Strecke auf dem Rückweg viel länger zu sein.

Doch das Publikum lenkte von negativen Gedanken ab. Die Unterstützung war genial! Viele hatten private Verpflegungsstellen errichtet, reichten Gummibärchen oder frische Erdbeeren zur Stärkung (ich wagte aber nicht davon zu kosten). Einige hatten ihre Gartenschläuche ausgerollt und boten uns nun etwas Kühlung! Kinder machten sich ein Spiel daraus, die Läufer mit Wasserpistolen “abzuschiessen”, und wir freuten uns über die Erfrischung!


Ab Kilometer 37 musste ich doch etwas kämpfen. Ich versuchte das Tempo zu halten, aber auch Herz- und Kreislauf nicht zu sehr zu fordern. „Dranbleiben und ziehen“, wurde zu meinem Mantra. Ich wünschte mir die Pferderennbahn von Musselburgh, welche den 40. Kilometer markierte sehnlichst herbei. Die hinteren Oberschenkel waren nun so müde und verspannt, dass ich trotz grösstem Willen die Schritte lang zu ziehen, leicht langsamer wurde - 4:52 / 4:50 / 4:47 / 4:50 Min./km.


Ich versuchte die gute Stimmung, die das Publikum verbreitete, aufzunehmen, klatschte Kinderhändchen ab und saugte den Applaus in mir auf. So gelang es auf dem 42. Kilometer das Tempo zu halten.

Was für eine Erleichterung, als wir endlich auf den riesigen Sportplatz der Pinkie Saint Peters Primarschule abbiegen konnten. Der blaue Zielbogen war nicht mehr weit. Doch oh weh! Der Weg ins Ziel führte über eine unebene Wiese, welche mit dicken, schwarzen Gummimatten belegt war. Die ganze Energie schien direkt in der weichen Unterlage zu verpuffen, und die letzten Schritte waren unglaublich mühsam – und gleichzeitig so einmalig, so besonders, ein Fest!!!

Ich versuchte den Zieleinlauf ganz bewusst zu geniessen. Aus den Lautsprechern dröhnte der Ohrwurm „Hello“, und ich werde die Worte der Speakerin nie vergessen: „Willkommen im Ziel “Guys”, in einer sensationellen Zeit von 3:21, ihr könnt mit euch sehr, sehr zufrieden sein!“

Jubelnd erreichte ich das Ziel, und da meine Uhr gar nur 3:20:24 (4:45 Min/km) anzeigte, war ich einfach unbeschreiblich glücklich!!!

Ich hatte trotz der Wärme meine alte Bestzeit vom letzten November um fast sieben Minuten unterboten! War mir DER perfekte Lauf gelungen, von dem man immer träumt?!


Gleich hinter dem Ziel warteten  Andi und Hugo. Andi war ebenfalls ein regelmässiger Lauf zu  3:13:58 und damit eine PB Verbesserung von fünf Minuten gelungen. Wir tauschten erste Gratulationen aus. 
Dann humpelte ich barfuss mit den beiden an den Rand eines grossen Rasenplatzes, wo wir uns ausruhen und umziehen wollten. Der Nagel der schmerzenden Zehe war total blutunterlaufen.

Erstaunt darüber, in Schottland an der Sommersonne im Gras sitzen zu können ohne zu frieren, berichteten wir einander ausgiebig von unseren Erlebnissen. Dann hatten wir uns so gut erholt, dass wir den zwei Kilometer langen Fussmarsch zum Busparkplatz gut bewältigen konnten, von dem aus uns ein Doppeldeckerbus zurück in die Stadt brachte.

Und nach einer erfrischenden Dusche und einem Imbiss samt kühlem Bier in der Hotellobby waren wir bereit für einen weiteren Stadtbummel die High Street hinan zur Witchery, wo wir den unvergesslichen Marathon-Tag und etwas verspätet Andis runden Geburtstag feierten.

Am folgenden Tag entdeckte ich per Zufall in meinem persönlichen Daten-Account beim Edinburgh Marathon, dass ich in meiner Kategorie 3. geworden war. Leider fehlt bis heute eine vollständige Rangliste, anhand derer wir unsere Leistungen einordnen könnten. Offiziell kann man nur den Overall-Rang abfragen. Andi lief als 365. Läufer von 11‘266 Finishern ein, und ich belegte Rang 534. Aber da ich nur gegen die Uhr und mich selber laufe, ist das ja nicht so wichtig – und ich hatte bei diesem Riesenfeld an Läufern auch nie mit einem Podestplatz gerechnet…

Edinburgh Marathon / 3:20:24 / 4:45 Min./km / Puls 159 / + 50 Höhenmeter

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