Das kühle Wetter hindert uns nicht am ausgedehnten, zweitägigen Sightseeing-Marathon vor dem Marathon. Wir schnuppern Ziel-Luft bei der Basilica Santa Croce, bewundern den ergreifend schönen Dom im Morgen-, Mittags- und Abendlicht, schlendern über den Ponte Vecchio, und zum Ledermarkt, bestaunen die reich ausgeschmückte Medici Kapelle, steigen zur Piazzale Michelangelo hoch, besichtigen die zauberhafte Kirche San Miniato al Monte und gönnen den pflastermüden Beinen reichliche Kaffee- oder Tee-Pausen.
Die Marathon-Messe bei der Startnummern-Ausgabe im Stadio Luigi Ridolfi ist trotz 30-Jahr-Jubiläum und Rekord-Teilnehmerzahl deutlich geschrumpft. Auf der Heimfahrt kommen wir in den "Genuss" einer unfreiwilligen, 90-minütigen, holprigen Bus-Stadtrundfahrt durch halb Florenz, da wir die falsche Fahrtrichtung gewählt haben...
Die Energie reicht abends noch für einen weiteren Bummel zur Piazza Santa Felicita hinter dem Ponte Vecchio. In den gemütlichen Gewölben der Trattoria Celestino stärken wir uns an beiden Abenden mit vorzüglichen Pasta und Poulet, Steak oder Fisch. Die Diskussion dreht sich hauptsächlich um den Marathon. Wir versuchen abzuschätzen, was wir vom Wettkampftag erwarten dürfen, und eine Prognose abzugeben stellt sich als ziemlich schwierig heraus!
Nur Andi ist sich seiner Form sicher! Hugo vermutet, zu wenige Longruns auf dem Trainingskonto zu haben. Und ich frage mich, wie stark mich die diffusen, wandernden Muskelschmerzen bremsen werden, die mich schon seit Wochen ja Monaten begleiten. Der Verdacht meines Physiotherapeuten, es handle sich um etwas Generalisiertes und nicht mehr nur um hartnäckige Triggerpunkte, scheint sich leider zu erhärten.
In den letzten Tagen war das Training eine Berg- und Talbahn-Fahrt gewesen - von vielversprechend bis entmutigend. Und das Bild von meiner 6. Teilnahme bei unserem Lieblings-Marathon hatte entsprechend von nicht ins Ziel Kommen bis zu einer neuen Firenze-Marathon-Bestzeit (sub 3:27 Stunden) gereicht.
Da ich vor dem Lauf wunderbar schlafe und am Morgen optimalstes Wetter herrscht, nehme ich mir vor, der anspruchsvollsten Variante eine Chance zu geben.
Vor dem Start
Die bezaubernde Stadt am Arno hat ihren Grauschleier abgelegt. Die Sonne scheint, der Himmel ist fast rein blau, goldenes Herbstlaub raschelt im sanften Nordwind, die Luft ist klar, mit 8° weder zu kalt noch zu warm, die Hügel um Florenz sind zum Greifen nah, die weisse Fassade von San Miniato al Monte grüsst von der anderen Flussseite, und die Gärten mit ihren Zypressen-Hecken an den welligen Hängen sind immer noch saftig grün - Toskana-Idylle, Traum-Bedingungen - was wollen wir uns mehr wünschen!
Vom gemütlichen Hotel Silla an der Via dè Renai ist es kaum einen Kilometer weit bis zum Start. Wir laufen warm eingehüllt in alte Pullover ein paar hundert Meter in Richtung Ponte Vecchio und über die Brücke Ponte alle Grazie ein, während auf der anderen Arno-Seite bereits ein dichter Läuferstrom zu den Startfeldern unterwegs ist.
Sich in die bunte Prozession der 11'000 erwartungsvollen, in allen erdenklichen Sprachen plappernden Läufer zu mischen ist beflügelnd und weckt grosse Vorfreude. Diese erhält jedoch bald einen Dämpfer. Die Strasse beim Turm Torre della Zecca Vecchia ist zwar sehr breit. Und doch vermag sie den Ansturm der Sportler samt Begleitern nicht zu schlucken (Bilder der Strecke stammen von den Tagen vor dem Marathon).
Die Passage an den hohen Gittern der Startfelder vorbei ist zu schmal. Minutenlang stecken wir auf dem Weg zu unserem Startblock eng zusammengepfercht fest und hoffen inständig, es möge keine Panik ausbrechen! Wie angenehm war es doch, als der Start noch auf dem geräumigen Piazzale Michelangelo in luftiger Höhe erfolgte!
Während wir uns am Durcheinander stören, das herrscht, drängeln wir uns zwischen die 3:10 und 3:15 Stunden Pacemaker, stolpern über abgestreifte Warmhalte-Abfallsäcke, Regen-Pellerinen, Pullover und Getränkeflaschen.
Das muntere Feld lässt sich zu einer Gedenkminute für die Überschwemmungs-Opfer von Sardinien beruhigen, schon sorgen laute Avicii-Rhythmen wieder für Stimmung, und die Handbiker werden ins Rennen geschickt.
Der Startschuss für das gesamte Marathon-Feld fällt wenig später. Zaghaft und stockend setzen wir uns in Bewegung, und es dauert mehr als eine Minute, bis wir die Startlinie erreichen.
Erstes Drittel - Torre della Zecca Vecchia bis Parco delle Cascine
Die Läufermasse ist sehr dicht, Viele haben sich offenbar falsch eingereiht. Ganze Mannschaften trotten im Einheits-Tenue tratschend dahin und stehen den schnelleren Läufern im Weg. Andi und Hugo haben ambitioniertere Ziele als ich, und doch bleiben wir auf dem ersten Kilometer beim schwierigen Slalom-Laufen beisammen. Andi verheddert sich mit der Schuhspitze in einer Plastikumhang-Kapuze und kann nur mit einer Akrobatikeinlage einen Sturz vermeiden.
Trommler schicken uns auf den Weg. Wie ein bunter, zäher Lavastrom wälzt sich die Menge auf der breiten Umfahrungsstrasse und über drei Plätze der Altstadt entlang nordwärts. Der erste Kilometer schlägt mit 5:25 Minuten zu Buche, bevor es endlich besser rollt.
Ich bin ganz optimistisch. Meine Beine fühlen sich zwar nach den letzten vier Erholungstagen nicht viel besser an, und die linke Schulter schmerzt. Der Puls bleibt jedoch erfreulich ruhig. Dieser kühle Spätherbst-Tag könnte ein guter Tag werden! Auf jeden Fall muss ich bewusst bremsen, um das geplante Tempo von 4:54 Min./km nicht zu unterschreiten.
Es geht westwärts dem Bahnhof entgegen, eine tiefe Unterführung bringt uns unter dem breiten Zugang zur Festung Fortezza da Basso hindurch, und eine zweite unterquert die Geleise des Bahnhofes. Beim abwärts Rollen spüre ich die Schläge mehr als mir lieb ist.
Beim alten Stadttor Porta al Prato heizt uns eine Band auf dem offenen Deck eines Sightseeing-Doppeldeckers mit rockiger Musik tüchtig ein.
Kurz bevor es hinaus in die Natur zum Cascine Park geht, unterstützt uns ganz besonderes Publikum in einer engen Gasse. Nonnen, die offenbar ein kleines Altersheim betreuen, staunen zusammen mit den betagten Bewohnern, die auf dem Gehsteig bequem in Campingstühlen thronen, freudestrahlend und mit Fähnchen winkend über das bunte Gewusel vor ihrer Haustür.
In der riesigen Grünzone am westlichen Stadtrand von Florenz legen wir Kilometer 6 - 15 zurück. Unterwegs auf den Platanen-Alleen treffe ich die richtige Geschwindigkeit immer besser. Das goldene Morgenlicht flimmert durch die herbstlichen Laubkronen der Platanen. Auf der alten Florenz-Marathon-Strecke legte man Kilometer 29 - 37 im Parco delle Cascine zurück. Ich hatte den Frieden hier draussen immer genossen, während Andi sich auf den langen, stillen Geraden oft schwer getan hatte.
Schon sehr bald - und viel zu früh - scheinen mir heute die Cascine-Kilometer lang. Wie ein Misston oder Schatten ist das schlechte Beingefühl andauernd präsent. Ich spüre ein ständiges Ziehen in beiden Hamstrings.
Nach dem Wendepunkt bei der Piazza dell' Indiano laufen wir einer Hecke entlang an der Sonne auf den 10. Kilometer zu. Mir wird warm. Ich versuche die Sonntagsidylle trotzdem zu geniessen. Auf den Spazierwegen sind viele Ausflügler, Radfahrer und Jogger unterwegs. Der Spiegel des Arnos ist nach den Gewittern der letzten Woche noch sehr hoch, das Wasser ganz braun, und der Fluss rauscht eindrücklich über die verschiedenen Schwellen.
Zwischen den Sträuchern ist die Läuferschlange zu sehen, die im Innern des Parkes eine Umkehrschlaufe dreht. Ich entdecke, dass Andi vorbeihuscht. Er sieht sehr fit aus und hat wohl bereits einen knappen Kilometer Vorsprung, und mir wird immer deutlicher bewusst, dass ich mein Wunschtempo heute nicht werde halten können, auch wenn ich krampfen und kämpfen würde. Es blitzt sogar die Frage auf, ob es überhaupt vernünftig war zu starten!?
Laut späterer Auswertung war ich bis km 14 mit 4:52 Min./km unterwegs.
Zweites Drittel - Parco delle Cascine bis Stadio Comunale
Nach 15 Kilometern sind die schönen, aber heute unendlich scheinenden Geraden in der grünen Lunge der Stadt bewältigt. Es folgt auf die dritte Unterführung die Überquerung der sanft geschwungene Arno-Brücke Ponte alla Vittoria. Nach dem Brücken-Buckel stoppe ich die erste Kilometerzeit über 5:00 Minuten, worauf die innere Stimme mich zu überzeugen versucht, nach 20 Kilometern einen Schwenker nach rechts zu machen und den protestierenden Muskeln im nahen Hotel ein gemütliches, warmes Bad zu gönnen.
Mein Kompromiss ist das Verlangsamen auf Erlebnis-Marathon-Tempo. Die 673 zum Teil mühsam errungenen Trainings-Kilometer der letzten 10 Wochen sollen nicht einfach umsonst gewesen sein!
Auf der linken Arno-Seite geht es durch ein Steinportal der alten Stadtmauer stadteinwärts. Rechterhand sind die Häuserzeilen dicht. Aus vielen Fenstern lehnen sich die Anwohner. Die einen schauen dem bunten Umzug still zu, andere lassen leidenschaftliche Anfeuerungsrufe auf uns niederprasseln.
Auf der linken Strassenseite ist der Blick über den Fluss frei, und die Altstadt grüsst mit den weltberühmten Silhouetten der uralten Sehenswürdigkeiten - allen voran Dom, Campanile und Palazzo Vecchio. Diese fantastisch eindrücklichen Gebäude möchte ich doch auf dem letzten Streckendrittel ganz aus der Nähe sehen...
Auf dem 18. Kilometer machen wir einen Abstecher durch eine schattige, enge, gepflasterte Gasse zur Porta Romana hoch. Der 19. führt nach einer Haarnadelkurve wieder zurück und an der stolzen Fassade das Palazzo Pitti vorbei. Der antike Strassenbelag ist eine Riesen-Herausforderung für meine empfindlichen Muskeln, jeder Schritt schmerzt.
Beim Ponte Vecchio steht das Publikum mehrreihig. Die "dai dai" - "bravi" oder "brava" Rufe sind ohrenbetäubend und motivierend, vermögen mir aber heute keinen Energieschub zu verleihen und wohl nur ein knappes Lächeln ins Gesicht zaubern.
Es geht weiter flussaufwärts mit Gegenwind dem Hotel entgegen. Nach mehreren schmerzhaften Zusammenstössen, unsanften Überholmanövern und Ellenbogen-Hieben macht mir die linke Schulter jetzt sogar mehr Beschwerden als die Beine. Der kühle Nordwind, der über die feuchte Haut streicht, verstärkt das dumpfe Missempfinden noch zusätzlich.
Ich habe das Gefühl, deutlich langsamer zu laufen, und zweifle doch, ob ich es bis ins Ziel schaffen werde. Auf dem 20. Kilometer kommt das Hotel Silla in Sicht - jetzt, da sich die Möglichkeit bietet, scheint das Aufgeben trotzdem nicht verlockend!
Ich lasse das Hotel rechts liegen, komme am durchbrochenen Turm Porta San Niccolò vorbei bei dem schriller Metal gespielt wird und schleiche über die moderne Brücke San Niccolò.
Wir sind zurück beim Startbereich. Diesmal geht es nach rechts, weiter dem Arno entlang, und der Halbmarathon-Bogen ist bereits zu sehen!
Die Zwischenzeit überrascht mich positiv - 1:44:32 Stunden! Wenn ich das Tempo halten könnte, wäre ich auf 3:30 Kurs...
Ja, wenn... diese Zeit ist unerreichbar, das ist mir sonnenklar und schmerzlich bewusst. Ja ich grüble sogar, ob ich es tatsächlich wagen soll, weiter zu laufen, weg vom Stadtzentrum, weg von der Möglichkeit jederzeit bequem zum Hotel schlendern zu können, sofern ich den Lauf doch noch abbrechen müsste!?
Mit lautem Getrappel überholt mich die Läufer-Traube rund um die 3:30er Pace-Maker, und ganz langsam gewinnen die hüpfendenen blauen Ballons an Vorsprung.
Unter alten Pinien und Platanen zieht die Läufer-Schlange zwei weitere Kilometer lang geradeaus Richtung Osten. Zwischen den Baumkronen sind die nahen Hügel zu sehen, die höchsten tragen ein Schneehäubchen. Trotz kühlem Nordwind greife ich aber gerne zu den angebotenen nassen Schwämmen.
Die folgende Strecken-Schlinge zum Stadion verläuft bis zum 30. Kilometer fast unmerklich stetig sanft aufwärts. Es geht durch typische Aussenquartiere, mit Mehrfamilienhäusern und Kleingewerbe. Die Strassen sind aber überall sauber und aufgeräumt, die Stadt bleibt grün. Und mindestens an jeder Kreuzung und auf jedem Platz unterstützen uns Zuschauer oder Musikbands mit typisch italienischer, Begeisterung. Die lebhaften Unterhaltungen im Feld nehmen auch kein Ende.
Kilometer 25 bis 27 sind wohl die unattraktivsten und ziehen sich zäh wie Kaugummi. Man läuft hinter einer hohen Mauer an den Geleisen beim Bahnhof Campo di Marte vorbei. Da ist die Verpflegungsstelle eine willkommene Abwechslung.
Seit Kilometer 15 nehme ich alle fünf Kilometer einen Schluck verdünntes Winforce aus der Gelflasche, lutsche ab und zu eine Salztablette und trinke regelmässig. Wenigstens die Ernährung funktioniert heute perfekt - sicher auch dank der mässigen Kreislaufbelastung.
Ich schaue nur noch selten auf die Uhr, der Puls ist seit dem 10. Kilometer unverändert, die Geschwindigkeit interessiert mich kaum. Es geht nur darum, möglichst gleichmässig und effizient über die Runden zu traben, und nicht zu sehr an den schmerzenden Muskeln zu zerren. Ich kann die Schritte nicht mehr lang ziehen und der Armschwung links ist deutlich eingeschränkt...
Doch das zweite Drittel ist geschafft! Ich erreiche das Stadion-Gebiet, wo die Startnummern-Ausgabe und die Marathon-Messe stattfand. Es folgen die Schlenker zum und um das Stadio Comunale, welches dem AC Florenz Heimat bietet. Der Wind hat aufgefrischt und jagt bei Kilometer 28 gelbe Platanen-Blätter über die Strasse.
Laut späterer Auswertung war ich von km 14 bis km 28 mit 5:08 Min./km unterwegs.
"Wenn ich so weit gekommen bin, werde ich es auch bis ins Ziel schaffen", ermutige ich mich, "auch wenn es hart werden sollte und ich gehen müsste!" Bis zum höchsten Punkt sind es nur noch zwei Kilometer!
Wir umrunden das Stadion auf der Viale Maratona. Und wir begegnen auf einer Wendestrecke dem vor uns laufenden Teil des Läufer-Mehrtausendfüsslers. Andi und Hugo sind nicht zu entdecken und wohl längst über alle Berge.
Eine aussergewöhnlich ausladend ausgestattete Labesstelle des offiziellen Verpflegers und Sponsors bietet alles was hungrige und durstige Läufer sich wünschen könnten, Becher werden knirschend zertreten, die Schuhe schmatzen auf dem klebrigen Asphalt. Ich bleibe bei meiner Verpflegung. Frisch gestärkt geht es "abwärts", der Altstadt und dem Dom entgegen. Noch fünf Kilometer bis zu dieser ersehnten Begegnung!
Wenig später steht die Brücke mit dem klingenden Namen Cavalcavia dell' Affrico im Weg. Sie führt über die vielen Geleise des Bahnhof Campo di Marte. Viele Läufer gehen. Der ruppige Anstieg erscheint auch mir wie ein Berg, von dem ich nur schlecht wieder runter rollen kann. Wie beim Luzern Halbmarathon beginnt nun auch das Kreuz zu zwicken.
Die Strecke führt bald über die Grenze zur Altstadt und damit auf alte, unebene gepflasterte Gassen. Auch an guten Tagen stellt dieser Untergrund nach 34 Kilometern grosse Anforderungen an die müden Beine! Heute zwingt er mich, das Tempo noch weiter zurückzunehmen. Ich kann es mir nicht leisten in ein Schlagloch zu treten oder zu stolpern.
Wir erreichen das schöne Portal, das auf den Vorplatz der Basilika Santissima Annunziata führt, ein paar Schritte noch bis zur südöstlichen Ecke der Piazza San Marco und dann geht es endlich in die schmale Via Ricasoli hinein. Das ist DER ersehnte, grosse Augenblick, welcher nicht nur Firenze-Neulinge zu Tränen rührt!
Am Ende der dunklen Gasse steht der riesige Dom Santa Maria del Fiore, die viertgrösste Kathedrale Europas. Mächtig, mäjestätisch, ja fast überdimensional schwingt sich die Kuppel in den Himmel und wirkt mit ihren 107 Metern Höhe dennoch elegant. An der reich ausgeschmückten Fassade dieses imposanten Bauwerkes, kann man sich auch beim stundenlangen Betrachten nicht satt sehen! Schlichtweg wundersam erscheint die Errichtung des Doms mit den vor über 700 Jahren zur Verfügung stehenden Mitteln.
Dicht gedrängt stehen die Zuschauer hier, die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend. Der motivierende Zuspruch lässt mich die Mühen dieses Marathons einen Moment fast vergessen.
An der Taufkapelle vorbei geht es auf die Einkaufsstrasse Via Roma, zum "Gilli", einer der besten Konditoreien von Florenz und am Einkaufszentrum Rinascente vorbei, dessen Terasse im 5. Stock eine herrliche Aussicht auf den Dom bietet.
Immer noch von tosendem Applaus angetrieben, biegen wir auf die eindrückliche Piazza della Repubblica ab. Das Karussell verzaubert mich jedes Jahr von Neuem und erinnert mich an eine Szene aus Cornelia Funkes Roman "Herr der Diebe", der in Venedig spielt.
Ein letztes Mal wird es stiller, die Strecke leitet die müden Maratoneti erneut ganz an den Rand der Altstadt bis zum alten Stadttor Porta al Prato. Noch einmal ist viel Willenskraft gefragt! Mein Herz schlägt zwar immer ruhiger, aber die geplagten Beine und die wie eingerostet fixiert scheinende Schulter lassen kein schnelleres vorwärts Kommen zu.
Ab dem 38. Kilometer laufen wir wieder am Arno, nun wirkt der verschachtelte Ponte Vecchio wie ein motivierender Magnet.
Nur noch zwei Brücken-Überquerungen und vier Kilometer!
Die Brücke Ponte Santa Trinita fordert mich sehr. Sie wölbt sich deutlich über den Arno. Die enge Gasse Borgo San Jacopo ist auf unregelmässigen Granitpatten ebenfalls nicht einfach zu durchlaufen.
Der Publikums-Andrang beim Ponte Vecchio ist wie vor Stunden noch überwältigend. Erstaunlicherweise bleibt uns ausreichend Platz für die Überquerung der ältesten und berühmtesten Brücke von Florenz. Sie fühlt sich weniger "steil" an als erwartet, der Applaus trägt mich so schnell hinüber, dass ich es verpasse, in die Schaufenster der unzähligen Goldläden zu gucken. Mein Blick ruht auf der goldenen Kugel auf der Laterne des Doms.
Auch wenn jetzt jeder Schritt Überwindung kostet, versuche ich die euphorische Feststimmung in der Altstadt zu geniessen. Das architektonische Feuerwerk, das nun noch folgt, habe ich mir hart verdient!
Bald werden wir den Dom aus nächster Nähe sehen. Bevor es so weit ist, macht die Strecke einen Abstecher zum Palazzo Vecchio mit seinem imposanten Turm. Schnell will ich einen Blick auf Michelangelos David und den Neptun-Brunnen erhaschen.
Schon schluckt uns eine enge Gasse, die direkt zur Taufkapelle und dem frei stehenden, Glockenturm führt.
Der 40. Kilometer verläuft direkt an der Haupportal des Doms vorbei und im weiten Bogen nordwärts um das gigantische Gotteshaus herum. Auf jedem unserer Stadt-Spaziergänge an diesem Wochenende hatte uns der Dom magisch angezogen. Auf den letzten Metern des diesmal so schmerzvoll zurückgelegten Marathon-Weges wirkt seine atemberaubend schöne Marmorfassade, die im Nachmittagslicht pastellfarben schimmert, noch bezaubernder.
Zum ersten Mal seit dem Halbmarathon suche ich nach 40 Kilometern auf der Uhr nach dem Fenster mit der Stoppuhrzeit-Anzeige - 3:26:13 Stunden - und kann kaum glauben, was ich sehe. Ich hatte geglaubt, viel mehr Zeit eingebüsst zu haben! Unglaublich - dass sogar eine Zeit unter 3:40 Stunden drin liegen könnte!
Jetzt regt sich doch noch ein Hauch Ehrgeiz in mir. Und ich versuche auf der langen, engen Gasse Via Ghibellina ein bisschen mehr Energie in meine Schritte zu legen, die Zähne zusammenbeissen. Der schnurgerade Kilometer scheint wie ein dunkler Tunnel, und die golden belaubten Bäume an dessen Ende wie das lang ersehnte Licht!
Endlich laufen wir hinunter auf die Strasse am Arno, auf der wir am Morgen zum Start spaziert waren. Es geht vorbei an der Lastwagen-Kolonne mit dem Gepäck der Läufer. (Andi beim Endspurt an dieser Stelle).
Glückliche Finisher kommen uns in raschelnde, silberne Wärmefolien gehüllt entgegen. Und ich kämpfe mich die letzte lange Gerade entlang, die mir mindestens doppelt so lang erscheint wie bei früheren Teilnahmen.
Es gelingt noch einmal auf 4:50 Min/km zu beschleunigen, während wir bei der Nationalbibliothek nach rechts abbiegen und auf einem blauen Teppich zur zauberhaften Front-Fassade der Basilica Santa Croce geführt werden. Noch eine letzte Kurve, dann sind es bis zum Zielbogen auf der Piazza Santa Croce nur noch wenige Schritte!
Nach 3:38:08 Stunden ist es geschafft!
Laut späterer Auswertung war ich von km 28 bis ins Ziel mit 5:26 Min./km unterwegs.
Die Erleichterung, stehen bleiben zu können, ist riesig. Ich bin einerseits glücklich über die doch noch ansehnliche Zeit, fühle mich trotzdem vor allem leer und enttäuscht. Wenn sich überhaupt kein bisschen "Flow" einstellt, macht Marathon-Laufen keinen Spass!
Als mir die Medaille umgehängt wird, überwältigen mich ein paar Tränen - Dankbarkeits-, Frust- und Sorgen-Tränen. Wie wird es nun weiter gehen? Wie werde ich diesen Schmerz-Schub wieder los?
Bis ich Andi und Hugo im Zielraum entdecke, habe ich eine Orange verspeist, und meine Lebensgeister erwachen langsam wieder.
Andi hat sein Potential ausschöpfen können (auf dem Bild ist er super unterwegs auf km 36). Mit 3:15 Stunden ist ihm eine tolle Saisonbestleistung, sein zweitbester Marathon überhaupt und eine Bilderbuch Lauf-Einteilung gelungen!
Leider hat auch Hugo eine schmerzvolle Geschichte zu erzählen, aber glücklicherweise dennoch sein Minimalziel erreicht.
Mühsam wanken wir die paar hundert Meter zurück zum Hotel. Der Besitzer und die Belegschaft laufen ebenfalls begeistert Marathon, und als Preis für die schnellsten Hotel-Gäste wurde je eine Flasche Champagner ausgesetzt. Auf einer Flip-Chart darf man seine Zeit notieren, und die Frauen Spalte ist bei unserer Rückkehr noch leer!
Die warme Dusche tut gut, und wir legen uns kurz hin, bevor wir für die Heimreise packen. Nach kaum einer Stunde zieht es uns jedoch wieder zum wunderschönen Dom. Die Absperrgitter werden weggestellt, die Touristen-Ströme ergiessen sich auf die Marathon-Strecke, und eine verzweifelte, verspätete Läuferin fragt uns nach dem Weg zum Dom, den sie trotz Plan auf dem iPhone nicht finden kann.
In einer Seitengasse hinter dem Dom stossen wir auf eine geniale Zeit und bessere Zeiten an und gönnen uns ein frühes Nachtessen.
Als wir unser Gepäck im Hotel abholen, steht mein Name immer noch zuoberst auf der Wettbewerbs-Liste. Ich war tatsächlich die schnellste Frau des Hotels und habe die Flasche Champagner gewonnen!
Sie reist auf dem etwas turbulenten Flug im Koffer sicher in die Schweiz. Wir wagen sie als Abschluss unserer schönen Reise im Zug nach Bern zu öffnen und sind uns einig, dass vor dem Pläne Schmieden, diesmal eine grosszügige Erholungsphase folgen muss!
Andi und ich nehmen uns gar ein Pausen-Jahr vor - ein Jahr mit Erlebnisläufen ohne ambitionierte Zeitziele.
Firenze Marathon
3:38:08 Stunden / 5:10.2 Min./km / Puls 158
1. Halbmarathon 1:44:32 / 4:57 Min./km
2. Halbmarathon 1:53:36 / 5:23 Min./km
+/- 50 hm / 8-11° schön, 11 km/h N-Wind
24. von 279 W45
Track http://connect.garmin.com/activity/408558579
Andi
3:15:54 Stunden / 4:38.6 Min./km
1. Halbmarathon 1:37:50 / 4:38.2 Min./km
2. Halbmarathon 1:38:04 / 4:38.9 Min./km
84. von 1129 M50
Samstags Jogging zum Ponte Vecchio
3.4 km Jogging ca. 6:07 Min./km / Puls ca. 120
8° Regen
Track http://connect.garmin.com/activity/408558572
Hallo Marianne,
AntwortenLöschenmit viel Spannung habe ich Deinen Bericht erwartet! Hatte auch vorher schon versucht, im Netz an die Resultate zu gelangen, aber in Florenz scheint man das nicht so wichtig zu finden...Egal!
Ganz herzliche Glückwünsche zum absolvierten Lauf! Bei diesen Bedingungen sich durchzukämpfen - Chapeau! Aber irgendwie hatte ich das fast erwartet, dass Du nicht locker lassen und alles geben würdest! Dennoch habe ich bei Deinen Zeilen mitgelitten. Dann hat Dir ja aber doch noch die Kulisse sehr geholfen, der begeisterten Zuschauer - und sogar Nonnen dabei! Da liegt wirklich der Gedanke ans Stehenbleiben in immer weiterer Ferne. Dieser Lauf scheint ja wirklich eine sehr laufenswerter zu sein, Deine Freude an der Stadt und dem Ereignis teilt sich mir aus Deinem Bericht sehr lebhaft mit!
Aber nun - ausruhen! Und Erlebnis- und Genussläufe sind auch eine wunderschöne Sache!
Liebe Grüße!
Elke
Herzlichen Dank Elke!
LöschenEs freut mich zu hören, dass du dich auf meine persönliche Florenz-Geschichte gefreut hast und ich dich mitnehmen konnte auf die faszinierende und stimmungsvolle Fuss-Reise durch eine zauberhafte, einzigartige Stadt. Ich weiss nicht, ob man anderswo auf der Welt die Gelegenheit hat, in diesem Ausmass in die Geschichte eizutauchen!? Und die begeisterten Rufe "corriamo a Firenze" aus dem Feld, die beim Publikum jeweils eine Applaus-Welle auslösten, klingen mir noch immer in den Ohren!
Wenn auch das Laufen diesmal kein Genuss war, so doch das dabei Sein!
Ja, es ist nicht einfach, die Laufzeiten zu finden, und in den ersten Stunden ist das Netz oft überlastet.
Das Ausruhen nehme ich ernst! Ich fühle mich zwar schon recht gut erholt. Offenbar habe ich mich unterwegs rechtzeitig von einer schnellen Zeit verabschiedet und das Tempo reduziert. So war es nur vom Willen her ein "alles Geben"! Die Laufschuhe lasse ich aber brav noch eine Weile stehen - sicher bis Sonntag ;-)
Liebe Grüsse
Marianne
Glückwunsch zu dem gelungen Finish!
AntwortenLöschenAuch wenn es diesesmal mehr Kampf als Genuß war hat es sich wohl gelohnt so wie ich das hier lese.
Florenz muss wirklich eine wunderschöne Stadt sein. Habe sie bisher nur in Filmen, insbesondere Hannibal, bewundern dürfen. Von dort kenne auch ich das Karusell :)
Die Pause ist jetzt sicherlich verdient und es kann durchaus positiv sein mal ganz ohne Zeitdruck, Marathonwünschen, etc. in ein Jahr zu starten.
Gute Regeneration!
Markus
Vielen Dank Markus!
LöschenDieses Marathon-Erlebnis hätte ich mir wirklich nicht nehmen lassen wollen. Und da der geschichtsträchtigste Streckenabschnitt ganz am Schluss liegt, "muss" man einfach bis ins Ziel laufen ;-)
Lustig, dass du das Karrussel kennst!
Ob Florenz aus Filmen, dem Roman Inferno von Dan Brown oder dem Computerspiel Assassin's Creed II bekannt ist - es ist so faszinierend, sich plötzlich selbst inmitten dieser Geschichten wiederzufinden, dass vor zwei Jahren sogar unsere drei Jugendlichen von dieser Stadt hellauf begeistert waren!
Wenn dir ein bisschen Gedränge am Start egal ist, und du eine verlorene Minute in Kauf nehmen magst, dann kann ich dir diesen Marathon wärmstens empfehlen. Meist ist das Wetter Ende November ideal.
Ja, 2014 nehmen wir es ruhiger, und der nächste Marathon wird ein Erlebnis-Lauf sein.
Liebe Grüsse
Marianne